Full text: Der Bergmannsfreund (3.1873)

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Ein Beispiel zur Nachahmung.) 
In Hamburg lag vor etwa 30 Jahren bei armen Leuten 
eine alte, schwer kranke Frau in Schlafstelle. Sie war 
schwindsüchtig, stöhnte und hustete Tag und Nacht, und 
verursachte durch andere Gebrechen große Beschwerden. Die 
Leute, bei denen sie wohnte, hatten ihr in ihrer ohnedies 
engen und luftlosen Wohnung einen Winkel angewiesen. 
Dort stand das elende Bett, in dem die Jammergestalt, 
jeder Krankeupflege und jeder Liebe entbehrend, in Schmutz 
und Ungeziefer begraben lag. Es kümmerte sich keine Seele 
um sie, und die Wirthsleute, denen es nur um die paar 
Groschen zu thun war, welche sie allwöchentlich für die 
Schlafstelle einnahmen, ließen es die Kranke in der rohesten 
Weise fühlen, wie lästig sie ihnen sei und daß sie dieselbe 
eigentlich weit lieber aus dem Hause werfen, als das ewige 
Seufzen und Husten hören möchten. 
Zufälliger Weise erfuhr davon ein Schiffszimmermann, 
der in der Nähe wohnte. Er war auch ein armer Mann 
und hatte nicht mehr, als was er mit seiner Hände Arbeit 
verdiente. Ihn und seine wackere Frau dauerte die un— 
glückliche Kranke, deren schweres Geschick durch die Unbarm— 
herzigkeit jener Wirthsleute noch mehr erschwert wurde. Sie 
gingen mit einander zu Rathe, ob sie nicht helfen könnten, 
und entschlossen sich, das kranke Weib bei sich aufzunehmen 
und es ihr so gut zu bereiten, als sie es irgend vermöchten. 
Die Kranke wollte den Wechsel, den sie ihr anboten, 
sich gerne gefallen lassen, denn, ob sie gleich den Schiffs— 
zimmermann nicht kannte, wußte sie doch, daß es ihr nicht 
schlimmer werde gehen können als jetzt. So wurde sie mit 
Mühe und Noth in die neue Schlafstelle hinüber gebracht, 
und da es um die Neujahrszeit und die Kälte sehr hart 
war, so war der Transport qualvoll genug. In welchem 
Zustande fand man die Arme! Sie starrte in Schmutz und 
Ungeziefer. Da sie nur ein einziges Hemd hatte, so gab 
die Frau des Schiffszimmermanns ihr eines der ihrigen. 
Gern hätte sie dieselbe in ihrer kleinen Schlafstube gebektet, 
aber das durfte sie des Ungeziefers wegen nicht, denn ihr 
Mann hielt, wie sie, viel auf Reinlichkeit und er hätte es 
auf dem Zimmerplatz mit seinen Collegen zu thun gehabt, 
wenn dergleichen bei ihm vorgekommen wäre. Es blieb 
also Nichts anders übrig, als das Bett des armen Weibes 
auf den Flur zu stellen. So viel Widerwärtiges die Pflege 
mit sich brachte, wurde sie von der Frau des Schiffszimmer— 
manns doch aufs Treueste besorgt, und bei Tag und Nacht 
war sie bei der e um jeden Dienst ihr zu thun und 
jede Erleichterung ihr zu schaffen. Bald stellte es sich heraus, 
daß diese das Schlafgeld nicht mehr zu zahlen vermochte, 
aber trotzdem hörte sie kein hartes Wort und keine Mahnung, 
sondern nur freundliche Worte des Trostes. Nur Eines 
that den wackern Leuten wehe, daß sie ihr keine eigentliche 
Krankenkost, sondern nur die Speisen von ihrem eigenen 
Tisch zeben konnten, die wohl für Gesunde gut genug waren, 
aber fuͤr einen Schwindsüchtigen nicht taugten. Deßhalb 
wandten sie sich an einen Verein für Armen- und Kranken— 
pflege, der einige Jahre vorher in Hamburg gegründet wor— 
den war. Die Vorsteherin kam selber, um die Kranke zu 
sehn und ihre Bedürfnisse kennen zu lernen. Da fand fie 
das arme Weib in ihrem Elend und saß als Trösterin und 
Helferin an ihrem Bette. Sie erklärte sich bereit, der 
Kranken von ihrem Verein einige Hemden, eine wollene 
Jacke und neues Bettzeug zu verschaffen, wogegen sich die 
Schiffszimmermannsfrau bereit finden ließ, das alte Zeug 
auszukochen und ihren Mann zu bitten, daß er dann am 
*) Aus den Blättern für das Armenwesen. Stuttgart, 1873. 
Sonntage die Bettstelle der Kranken in der Schlafkammer 
nufschlage. Auch wurde nun der Arzt gerufen und Alles 
gethan, was für eine Schwindsüchtige gelhan werden kann, 
im ihre Trübsal zu erleichtern. 
Als die treue Armenpflegerin einige Tage später ihren 
Besuch erneute, fand sie die Kranke schon umgebettet, und 
wie in einer neuen Welt. O, sagte sie, tief gerührt, diese 
zuten Menschen haben, seit ich bei ihnen bin, so Viel an mir 
gethan, daß ich es ihnen niemals vergelten kann. Ach, und 
nun sehen Sie einmal das Schiff da! Sie zeigte mit ihrer 
dürren Hand auf ein kleines, zierlich gearbeitetes Schiff, welches 
auf dem Tische stand. Das hat er fuͤr meinen Albert gemacht, 
agte sie. Der Albert war ihr jüngstes Kind, das im 
Waisenhause sich befand. Und für meinen Robert hat er 
auch eines gemacht! setzte sie mit ihrer keuchenden Stimme 
hinzu. Dieser Robert war ihr älterer Sohn und wohnte 
im Werk- und Armenhause. O wie muß einer fast sterben⸗ 
den Mutter zu Muthe sein, wenn sie an ihre Kinder im 
Waisenhaus und im Armenhause denkt, und zu allen Tages— 
tunden und zu allen Stunden der schlaflosen Nächte das 
Wehe und der Jammer um sie ihr am Herzen nagt. Und 
uun sind Menschen da, die nicht nur ihr, der Mutter, son⸗ 
dern auch den Kindern, den verwaisten, anstatt der Mutter 
Liebe erweisen. 
Durch Vermittlung der Armenpflegerin, die seitdem oft 
mit Trost und Labung bei der Kranken einkehrte, fehlte es 
letzterer auch an der Krankenkost und an mancher Erquickung 
aicht mehr, aber die beste Erquickung war ihr doch immer 
die Liebe ihrer Hausleute. 
Eine Besserung des elenden Zustandes trat nur vor— 
übergehend ein. Bald wurde es schlimmer, und die Pflege 
wurde immer schwerer, aber der Schiffszimmermann und 
seine Frau ermüdeten nicht. Halbe und ganze Nächte saßen 
sie abwechselnd an ihrem Bette, und wurden auch nicht 
ungeduldig, als die schwer Heimgesuchte, wie das bei Brust⸗ 
ranken nicht selten vorkommt und mit ihrer Krankheit ent— 
scchuldigt werden muß, gegen ihre Wohlthäter murrte. Ja 
ie entschuldigten das Murren der Armen und fuhren fort, 
ie zu pflegen und zu tragen, als wenn sie ihre leibliche 
Schwester wäre. 
So war fast ein halbes Jahr verstrichen, ein schweres. 
Im Juni, als der Zustand der Kranken sich in hohem Grade 
verschlimmerte, drang der Arzt darauf, daß sie nach dem 
Krankenhause gebracht würde. Auch da hörten die trefflichen 
Menschen nicht auf, ihre aufopfernde Liebe zu beweisen, be— 
suchten die Sterbende, die doch nicht sterben konnte, so oft 
der Besuchstag kam, draußen im Krankenhause, brachten 
manche Gabe ihr mit, die ihr eine Freude oder Erquickung 
war, und wenn der Jüngste, der Albekt, im Waisenhause 
die Erlaubniß zum Ausgehen bekam, so mußte er zu den 
Schiffszimmermannslenten kommen, und sie nahmen ihn 
jedesmal mit solcher Liebe auf, als ob er ihr eigenes Kind 
wäre. 
Wären solch edle Menschen nur häufiger, es würde 
Vieles besser auf der Welt! 
181 Erzäͤhlungen 
von Wilhelm Fischer. 
„Wer den Pfennig nicht ehrt, 
Ist des Groschens nicht werth.“ 
Damit die jüngeren der geneigten Leser nicht etwa 
leichtsinnig werden, muß ich sofort einen anderen Ton pfei— 
fen und ein neues Stücklein erzählen.
	        
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