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1. Verbreitung und Einschleppung der
Cholera. — Die bisherigen wissenschaftlichen Forschungen
haben zu dem Ergebniß geführt, daß bei uns die epide—
mische Tholera niemals von selbst entsteht, sondern daß
der Keim derselben jedesmal im Wege des menschlichen
Verkehres zu uns eingeschleppt wird. Und zwar geschieht
diese Verschleppung der Hauptsache nach eben nur durch
die Excremente (Darmentleerungen, Stuhlgang, Koth) von
Cholerakranken; daneben allerdings kann eine Uebertragung
des Krankheitsstoffes auch durch Kleider, Betten u. s. w.
welche der Kranke benutzt hat, ja selbst durch Nahrungsmittel,
erfolgen.
zast bei jedem einzelnen Erkrankungsfalle kann man
mit Sicherheit nachweisen, daß die befallenen Personen die
Abtritte der Häuser, in welchen Cholerakranke waren, oder
solche, deren Mistgruben an die befallenen Häuser an—
grenzten, besucht, oder daß sie mit Leuten aus jenen Haäu⸗
sern Abtritte gemeinschaftlich benützt haben. Es ist daher
auch leicht verständlich, warum die Cholera, seitdem die
Menschen mehr und schneller reisen, auch viel rascher als
in früherer Zeit sich verbreitet, und erklären sich die weiten
Sprünge, welche die Cholergepidemien oft machen, sehr
leicht, wenn man bedenkt, daß ein Cholerakranker nur in
denjenigen Plätzen den Keim der Seuche hinterläßt, wo er
eben Stuhlentleerung hatte, während alle Zwischenstationen
verschont bleiben.
Nicht überall und allzeit gleichmäßig oder gleich ge—
fährlich kommt indessen der eingeschleppte Cholera-Keim
zut Entwicklung. Während er in einzelnen glürklichen
Gegenden fast spurlos verschwindet, ruft er in den andern
— und leider ist dies die größere Mehrzahl — sofort eine
heftige Epidemie hervor. Auch ein und derselbe Ort kann
in der einen Zeit sehr stark befähigt sein zur Aufnahme
und Entwicklung des Cholerakeims, in der audern Zeit
aber wieder gar nicht. J
Es ist fast zweifellos, daß diese örtliche und zeitliche
Verschiedenheit für die Entwicklungsfähigkeit des Cholera⸗—
Keimes lediglich mit den Bodenverhältnissen im Zusammen—
hang steht. Affenbar begünstigen gewisse eigenthümliche Ver—
hältnisse der Bodenbeschaffenheit eines Ortes, des Grund—
wassers u. s. w. den Ausbruch der epidemischen Cholera
im höchsten Grade. Es liegt allerdings nicht in unserer
Macht, die Bodenverhältnisse überall so zu reguliren, daß
die Cholera keinen Anhalt zu ihrer Entwicklung finde.
Doch gibt es andererseits erprobte Maßregeln, durch deren
umsichtiges und pünktliches Ausführen sich erwarten läßt,
daß. die Seuche nicht mehr in so heftiger und bedrohender
Weise um sich greifen könne, wie in 8 Zeiten, wo
man diese Verhältnisse nicht kannte.
AVom getreuen Kunecht.
Erzählt von E. Diethoff.
Es war am Sonntag Nachmittag und noch dazu im
Mai an einem Tage, der voll Sonnenschein und Vogel—
sang war, der in den Wald hinaus lockte, an die kuhlen,
schattigen Plätze, wo die Maiblumen aufblühten und die
Erdbeerblüihen dem Sommer eine reiche Erndte versprachen.
Da war es denn nicht zu wundern an so einem Tage,
daß in der Christenlehre die confirmirten Buben und Maͤd—
chen unruhig waren und mehr als billig nach der Kirchen—
thüre blickten, oder nach den Fenstern, durch deren Spinn—
gewebe die Sonne so verlockend funkelte, daß mehr Catechis—
men und Gesangbücher auf den Boden rutschten und eif—
riger von den Nachbarn wieder aufgehoben wurden, als
gerade nöthig, ja daß manch Einer oder Eine das Gähnen
nicht unterdrücken konnte, und im Allgemeinen eine Unruhe
hertschte, wie gerade nicht zu loben. Aber es war doch
zraußen auch gar zu sonnig und in der Kirche zu eng und
dumpfig; denn es war die Kirche einer nicht großen Ge—
meinde, die zumeist von Bergleuten bewohnt war.
Der Pfarrer hatte gar eindringlich über das Gleichniß
von den Knechten geredet, welchen der Herr so viel Pfunde
übergeben hatte, um sie dann wieder zurückzufordern. Es
war gar lehrreich, aber nur die wenigsten der jungen
Leute hörten das mehr, ihre Gedanken waren für jetzt nur
auf den Schluß der Christenlehre gerichtet, und die meisten
Augen lenkten sich nach dem alten Küster, der in einer
Seuenbank friedlich eingenickt war, ob er nicht bald auf—
vachen wolle; denn das Rasseln des Schlüsselbundes, der
Schlag der Kirchenuhr dünkle ihnen jetzt der liebste Ton.
Nur ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren hing mit
Ernst und Andacht an dem Munde des Predigers. Und
als dieser fragte: „nun, Gottlieb, kannst Du mir sagen, was
der Herr zu dem letzten Knechte sprach, dem nur ein Pfund
war überant wortet worden?“ — da antwortete der Knabe
mit so hellem Auge, mit so wahrhaft freudiger Stimme, daß
man wohl merkte, es war ihm ernst und er verstand, was
er sagte — — „oh Du guter und getreuer Knecht, Du
bist uͤber Weniges getreu gewesen, siehe, ich will Dich über
Vieles setzen“. — „KRecht so, mein Sohn“, sprach der Geist-
liche, „Jedem von Euch ist sein Pfund anvertraut, sorget
und sehet dazu, daß Ihr es mehret im wahreu Sinne, denn
es wird von Euch gefordert werden.“
Er wollte noch Mehr sagen, aber da hob die Uhr aus
zum Schlage, und der Kuͤster griff erwachend zu seinen
Schlüsseln. -— Der gute Pfarrer lächelte, als er sah,
wie nun, nachdem geöffnet worden war, Alle sich hinaus—
drängten zur Kirche, die Mädchen mit Gekicher und die
Znaben mit freundschaftlichen Ellenbogenstößen. Nur der
nabe, welchen der Pfarrer „Gottlieb“ genannt, blieb noch
eine Weile stehen und drehte seine Kappe in den Händen,
Jleichsam, als wolle er noch Etwas fragen und getraue sich
zicht recht. Des Pfarrers milder Blick fiel auf ihn, aber
ehe der Knabe noch den Muth zur Anrede gefunden, hatte
tn schon ein Kamerad am Aermel gezupft: „jetzt mach!,
Vottlieb, daß wir fortkommen, die Andern sind fast alle
draußen —.“ Da ging er mit, und sie zogen hinaus, grup⸗
penweise, wie sie sich gerade zusammenschickten.
Der alte Pfarrer sah ihnen nach, wie sie die sonnige
Dorfstraße hinauf eilten, jung und fröhlich, Jedes mit sei—
nem Pfunde begabt, und er dachte, wie viele von ihnen es
wohl nützen möchten, ob ihrer viele als treue Haushalter
möchten erfunden werden. — Ach! Er hatte schon so lange
zelebt, hatte schon so manch ein jung Geschlecht eingesegnet
und vermahnt, hatte für Viele Hoffnungen gehegt, und
Wenige, gar Wenige hatten sie erfüllt. Nicht zu Vielen
hätte der Herr sagen dürfen: „oh Du guter und getreuer
Knecht!“ — Und dem alten Maune kam es zu Sinne, ob
er es denn gewesen, ob das Pfund, das ihm war anver—
traut worden, Zinsen getragen habe, ob er das Lob ver—
diene, über das Wenige getreu gewesen zu sein. Er wollte
fast kleinmüthig werden, denn als er vor Jahren jung hie—
her gekommen und eine rohe, verwilderte Gemeinde getrof—
fen, da war er voll frischen Muths an sein Tagewerk ge—
jangen und hatte gemeint, Viel ausrichten zu können, Viel
inders und besser zu machen. Wohl war sein jahrelanges
Muühen nicht umsonst gewesen und er durfte sich selbst das
Zeugniß geben, nicht lässig gewesen zu sein, aber was war