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Mutterherz sagte ihr, daß die Frage nicht ohne
einen tieferen Grund aufgeworfen war.
„Sie hat die ganze Zeit über nach dem Kinde
gesucht und es nicht gefunden,“ dachte Lady
Harding. „Ich muß es von Sunbridge fort⸗
nehmen und an einen sicheren Ort bringer;
denn es ist ihr doch nicht zu trauen, und ich
muß diese Macht über sie für jeden Fall fest—
halten.“
Am andern Tag schickte sie einen Boten nach
Sunbridge; selbst wagte sie nicht hinzugehen,
da ihre Abwesenheit Verdacht erregen konnte.
Sie hatte ja Warren, der jetzt wieder in ihrem
Dienst stand und dem sie vertrauen konnte.
„Du kannst morgen für mich nach Sunbridge
gehen und dort ein Kind abholen,“ sagte sie
zu Warren. „Hier ist ein Brief für den Mann,
bei dem das Kind ist; die
Adresse steht darauf. Und
hier ist die Adresse eines
Instituts in Clagham, wohin
du es bringen sollst. Ich
werde sogleich an den Vor—
steher des Instituts schreiben,
so daß alles in Ordnung
sein wird, ehe du hin—
kommst.“
Sie gab ihm den Brief
und das nötige Reisegeld,
vergaß aber, ihm Schweigen
aufzuerlegen.
Hunter, der im Harding—
schen Hause mit Alicens Geld
einen Diener erkauft hatte,
erfuhr am selben Tag, daß
Warren nach Sunbridge rei⸗
sen sollte. Er berichtete so—
gleich an Lindsay, was er
gehört hatte.
Dieser war im Zweifel,
was er tun sollte. Erst
wollte er zu Alice gehen,
entschloß sich aber, seinen
Freund Purton zu Rate zu
ziehen. Er fand diesen zu
Hause und erzählte ihm
flüchtig, was er soeben er—
fahren.
„Du mußt Warren zuvor⸗
kommen,“ sagte Purton.
„Nimm das Mädchen von
dort weg und weise die Leute
an, daß sie Lady Harding glauben machen,
Thomas Parsey habe sie zu sich genommen.“
„Das würde ihren Ansprüchen vollständig
ein Ende machen. Sie würde es nicht wagen,
dagegen Einspruch zu erheben.“
„Und Reynold,“ fuhr Purton fort, „du magst
das Kind als Mittel zur Wiedervereinigung
Lord Temples mit seiner Frau benutzen.“
„Wie ist das möglich?“
„Bringe das Mädchen zu ihm; sage aber
Alice nicht, wo es ist, sondern gib ihr nur die
Versicherung, daß es sich in Sicherheit befindet!“
„Ah, ich verstehe!“
„Verlasse dich darauf, Lord Temple wird es
mit Freuden aufnehmen.“
„Gewiß!“ pflichtete Reynold bei. „Er be⸗
reut, was er getan. Ich habe mehrere Briefe
von ihm erhalten. Er bat mich, zu ihm zu
kommen; aber ich konnte nicht einsehen, was
mein Besuch ihm Gutes bringen sollte“
— JF
„Nach der Schicht“
„Hast du seine Briefe beantwortet?“
„Ja. Ich schrieb ihm, er solle nicht an das
denken, was er mir geschrieben, ich hätte es
ängst vergessen; aber ich könne ihm keine
Hoffnung machen, daß er Alice jemals wieder⸗
sehen würde.“
„Tue, wie ich dir sage!“ Bringe das Kind
zu ihm; er wird es der Mutter wegen freund⸗
lich aufnehmen. Sage Alice, daß das Kind
sicher ist und daß sie es jederzeit sehen kann,
und wenn sie das wünscht, wirst du wissen, was
du zu tun hast.“
„Sie natürlich zu ihrem Gatten bringen und
sie vereinigen. Der Erfolg mag zweifelhaft
sein, denn sie war zu sehr beleidigt.“
„Ihre Liebe zu ihm wird wiederkehren, wenn
sie ihr Kind bei ihm sieht. Ich habe die beste
Allerseelen. Gezeichnet von Karl Hornstein
Hoffnung. Noch habe ich dir mitzutktilen, daß
—D
habe.“
„Was schreibt er?“
„Er wird bald kommen, ist sehr höflich und
dankt mir, daß ich mich Jennys angenommen
habe. Wenn er zurückkomme, werde er für
sie sorgen; doch nach dem, was er aus zuver—⸗
ässiger Quelle von ihr gehört habe, müsse er
innehmen, daß sie ihre Ansprüche auf ihn längst
zerwirkt habe. Inzwischen stehe es in meinem
Belieben, sie im Hause meiner Mutter zu
ehalten.“
Lindsay mathte eine unwillige Bewegung
„Ist das nicht ein sonderbarer Brief?“
„Unter den Umständen nicht. Wahrscheinlich
hat er an Lady Harding in Betreff seiner Frau
gzeschrieben, und diese wird ihm wenig Gutes
mitgeteilt haben. Wenn er erst hier ist, wollen
wir ihm den Kopf schon zurechtsetzen.“
Heft 46/1928
„Hast du Jenny gesagt, daß er geschrieben
hat?“
„Kein Wort. Sie wundert sich, daß er nichts
bon sich hören läßt, aber sie findet hundert
Entschuldigungen für sein Schweigen. Solche
Liebe und solchen Glauben trifft man gewiß
selten und es kann nicht ausbleiben, daß sie
aoch belohnt wird.“
„Ich wünsche und hoffe es!“ sprach Lindsay
aus tiefster Seele. Dann verabschiedete er sich
yon dem Freunde und eilte nach dem Bahnhof
Als er in Sunbridge ankam, lag das Städt—
hen bereits in tiefster Nachtruhe, und nur selten
ließen sich vereinzelte Tritte hören. Er hatte
sich am Bahnhof nach der Adresse Mr. Stir—
lings erkundigt und fand trotz der tiefen Dun—⸗
kelheit das Haus, in dem noch die Fenster eines
Zimmers erhellt waren.
Auf Lindsays Klopfen
öffnete Mr. Stirling selbss
und bat ihn, ins Zimme—
zu treten.
„Sie werden sich einer
Dame erinnern, die sich vor
einiger Zeit ein paar Tage
bei Ihnen aufhielt,“ sagte
Lindsay, nachdem er sich sei—
nes späten Kommens wegen
entschuldigt hatte, „der Mut—
ter des Kindes, das be
Ihnen ist.“
„Ja, Sir.“
„Sie haben das Kind
noch in Ihrem Hause?“
„Ja, es schläft jetzt.“
„Vielleicht erinnern Sie
sich auch noch, daß Ihnen
Lady Temple befahl, zu
einem Mr. Lindsay zu
schicken, falls Mrs. Kernot
etwa das Kind von Ihnen
nehmen wollte?“
„Ja, Sir.“
„Nun, ich bin Mr. Lind—
say — Sie sehen etwas ver—
wundert aus, mein Freund!“
„Sie sagten Lady Temple?“
„Ganz recht; die Mutter des
Kindes ist Lady Temple und
ihr Vater Mr. Thomas
Parsey, dessen Name Ihner
vielleicht aus dem jüngst
beendeten Ehescheidungsprozeß bekannt ist —
ich nehme an, daß Sie von ihm gehört haben.“
„Gewiß, Sir; die Sache erregle hier großes
Aufsehen.“
„Ich wünsche das Kind mit mir zu nehmen.
Morgen wird ein Bote von Lady Harding
zu Ihnen kommen, und um etwaigen Weit—
äufigkeiten vorzubeugen, können Sie dem Boten
agen, daß der Vater des Kindes, Thomas
Parsey, es hier ermittelt und zu sich genommen
„abe; dadurch entgehen Sie allen Rachfragen
und Vorwürfen von seiten der früheren Mrs
Kernot.“
Fortsetzung folat.
—D—
Er, der Gott, des Friedens, heilige euch
vollkommen, damit euer ganzer Geist und Seele
und Leib tadellos aufbewahrt werde für die
Ankunft unseres Herrn Jesu Chprifti