Full text: Nach der Schicht (24)

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Mutterherz sagte ihr, daß die Frage nicht ohne 
einen tieferen Grund aufgeworfen war. 
„Sie hat die ganze Zeit über nach dem Kinde 
gesucht und es nicht gefunden,“ dachte Lady 
Harding. „Ich muß es von Sunbridge fort⸗ 
nehmen und an einen sicheren Ort bringer; 
denn es ist ihr doch nicht zu trauen, und ich 
muß diese Macht über sie für jeden Fall fest— 
halten.“ 
Am andern Tag schickte sie einen Boten nach 
Sunbridge; selbst wagte sie nicht hinzugehen, 
da ihre Abwesenheit Verdacht erregen konnte. 
Sie hatte ja Warren, der jetzt wieder in ihrem 
Dienst stand und dem sie vertrauen konnte. 
„Du kannst morgen für mich nach Sunbridge 
gehen und dort ein Kind abholen,“ sagte sie 
zu Warren. „Hier ist ein Brief für den Mann, 
bei dem das Kind ist; die 
Adresse steht darauf. Und 
hier ist die Adresse eines 
Instituts in Clagham, wohin 
du es bringen sollst. Ich 
werde sogleich an den Vor— 
steher des Instituts schreiben, 
so daß alles in Ordnung 
sein wird, ehe du hin— 
kommst.“ 
Sie gab ihm den Brief 
und das nötige Reisegeld, 
vergaß aber, ihm Schweigen 
aufzuerlegen. 
Hunter, der im Harding— 
schen Hause mit Alicens Geld 
einen Diener erkauft hatte, 
erfuhr am selben Tag, daß 
Warren nach Sunbridge rei⸗ 
sen sollte. Er berichtete so— 
gleich an Lindsay, was er 
gehört hatte. 
Dieser war im Zweifel, 
was er tun sollte. Erst 
wollte er zu Alice gehen, 
entschloß sich aber, seinen 
Freund Purton zu Rate zu 
ziehen. Er fand diesen zu 
Hause und erzählte ihm 
flüchtig, was er soeben er— 
fahren. 
„Du mußt Warren zuvor⸗ 
kommen,“ sagte Purton. 
„Nimm das Mädchen von 
dort weg und weise die Leute 
an, daß sie Lady Harding glauben machen, 
Thomas Parsey habe sie zu sich genommen.“ 
„Das würde ihren Ansprüchen vollständig 
ein Ende machen. Sie würde es nicht wagen, 
dagegen Einspruch zu erheben.“ 
„Und Reynold,“ fuhr Purton fort, „du magst 
das Kind als Mittel zur Wiedervereinigung 
Lord Temples mit seiner Frau benutzen.“ 
„Wie ist das möglich?“ 
„Bringe das Mädchen zu ihm; sage aber 
Alice nicht, wo es ist, sondern gib ihr nur die 
Versicherung, daß es sich in Sicherheit befindet!“ 
„Ah, ich verstehe!“ 
„Verlasse dich darauf, Lord Temple wird es 
mit Freuden aufnehmen.“ 
„Gewiß!“ pflichtete Reynold bei. „Er be⸗ 
reut, was er getan. Ich habe mehrere Briefe 
von ihm erhalten. Er bat mich, zu ihm zu 
kommen; aber ich konnte nicht einsehen, was 
mein Besuch ihm Gutes bringen sollte“ 
— JF 
„Nach der Schicht“ 
„Hast du seine Briefe beantwortet?“ 
„Ja. Ich schrieb ihm, er solle nicht an das 
denken, was er mir geschrieben, ich hätte es 
ängst vergessen; aber ich könne ihm keine 
Hoffnung machen, daß er Alice jemals wieder⸗ 
sehen würde.“ 
„Tue, wie ich dir sage!“ Bringe das Kind 
zu ihm; er wird es der Mutter wegen freund⸗ 
lich aufnehmen. Sage Alice, daß das Kind 
sicher ist und daß sie es jederzeit sehen kann, 
und wenn sie das wünscht, wirst du wissen, was 
du zu tun hast.“ 
„Sie natürlich zu ihrem Gatten bringen und 
sie vereinigen. Der Erfolg mag zweifelhaft 
sein, denn sie war zu sehr beleidigt.“ 
„Ihre Liebe zu ihm wird wiederkehren, wenn 
sie ihr Kind bei ihm sieht. Ich habe die beste 
Allerseelen. Gezeichnet von Karl Hornstein 
Hoffnung. Noch habe ich dir mitzutktilen, daß 
—D 
habe.“ 
„Was schreibt er?“ 
„Er wird bald kommen, ist sehr höflich und 
dankt mir, daß ich mich Jennys angenommen 
habe. Wenn er zurückkomme, werde er für 
sie sorgen; doch nach dem, was er aus zuver—⸗ 
ässiger Quelle von ihr gehört habe, müsse er 
innehmen, daß sie ihre Ansprüche auf ihn längst 
zerwirkt habe. Inzwischen stehe es in meinem 
Belieben, sie im Hause meiner Mutter zu 
ehalten.“ 
Lindsay mathte eine unwillige Bewegung 
„Ist das nicht ein sonderbarer Brief?“ 
„Unter den Umständen nicht. Wahrscheinlich 
hat er an Lady Harding in Betreff seiner Frau 
gzeschrieben, und diese wird ihm wenig Gutes 
mitgeteilt haben. Wenn er erst hier ist, wollen 
wir ihm den Kopf schon zurechtsetzen.“ 
Heft 46/1928 
„Hast du Jenny gesagt, daß er geschrieben 
hat?“ 
„Kein Wort. Sie wundert sich, daß er nichts 
bon sich hören läßt, aber sie findet hundert 
Entschuldigungen für sein Schweigen. Solche 
Liebe und solchen Glauben trifft man gewiß 
selten und es kann nicht ausbleiben, daß sie 
aoch belohnt wird.“ 
„Ich wünsche und hoffe es!“ sprach Lindsay 
aus tiefster Seele. Dann verabschiedete er sich 
yon dem Freunde und eilte nach dem Bahnhof 
Als er in Sunbridge ankam, lag das Städt— 
hen bereits in tiefster Nachtruhe, und nur selten 
ließen sich vereinzelte Tritte hören. Er hatte 
sich am Bahnhof nach der Adresse Mr. Stir— 
lings erkundigt und fand trotz der tiefen Dun—⸗ 
kelheit das Haus, in dem noch die Fenster eines 
Zimmers erhellt waren. 
Auf Lindsays Klopfen 
öffnete Mr. Stirling selbss 
und bat ihn, ins Zimme— 
zu treten. 
„Sie werden sich einer 
Dame erinnern, die sich vor 
einiger Zeit ein paar Tage 
bei Ihnen aufhielt,“ sagte 
Lindsay, nachdem er sich sei— 
nes späten Kommens wegen 
entschuldigt hatte, „der Mut— 
ter des Kindes, das be 
Ihnen ist.“ 
„Ja, Sir.“ 
„Sie haben das Kind 
noch in Ihrem Hause?“ 
„Ja, es schläft jetzt.“ 
„Vielleicht erinnern Sie 
sich auch noch, daß Ihnen 
Lady Temple befahl, zu 
einem Mr. Lindsay zu 
schicken, falls Mrs. Kernot 
etwa das Kind von Ihnen 
nehmen wollte?“ 
„Ja, Sir.“ 
„Nun, ich bin Mr. Lind— 
say — Sie sehen etwas ver— 
wundert aus, mein Freund!“ 
„Sie sagten Lady Temple?“ 
„Ganz recht; die Mutter des 
Kindes ist Lady Temple und 
ihr Vater Mr. Thomas 
Parsey, dessen Name Ihner 
vielleicht aus dem jüngst 
beendeten Ehescheidungsprozeß bekannt ist — 
ich nehme an, daß Sie von ihm gehört haben.“ 
„Gewiß, Sir; die Sache erregle hier großes 
Aufsehen.“ 
„Ich wünsche das Kind mit mir zu nehmen. 
Morgen wird ein Bote von Lady Harding 
zu Ihnen kommen, und um etwaigen Weit— 
äufigkeiten vorzubeugen, können Sie dem Boten 
agen, daß der Vater des Kindes, Thomas 
Parsey, es hier ermittelt und zu sich genommen 
„abe; dadurch entgehen Sie allen Rachfragen 
und Vorwürfen von seiten der früheren Mrs 
Kernot.“ 
Fortsetzung folat. 
—D— 
Er, der Gott, des Friedens, heilige euch 
vollkommen, damit euer ganzer Geist und Seele 
und Leib tadellos aufbewahrt werde für die 
Ankunft unseres Herrn Jesu Chprifti
	        
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