Heft 46/1928
„Nach der Schicht“
vin, sondern ihn selbst mit Leib und Seele!
Wenn ich nicht die Macht habe, ihn ins
Hefängnis oder aus dem Lande zu treiben,
vird er Herr über mich werden. So aber ist
er mein Sklave; und wenn er tut, was ich
jon ihm verlange — woran ich nicht zweifle —
dann habe ich ihn billig erkauft. Hier nehmen
Sie diese Banknoten und bringen Sie mir
morgen die Wechsel und Rechnungen.“
„Seltsam, sehr seltsam!“ murmelte Mr. Med—
vin vor sich hin, als er sich entfernte. „Was
oll das heißen? Daß sie es nicht aus Liebe
tut, weiß ich; und eine Beleidigung kann er
ihr nicht zugefügt haben, jedenfalls aber würde
sie aus Rache nicht seine Schulden bezäahlen
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die Gefahr sich langsam aber beständig und
sicher um sie her auftürmen, um dann vernich—⸗
tend über sie hereinzubrechen.
„Ich kann kaum glauben, daß Sie mir
verziehen haben,“ sagte sie eines Tages, als
wieder ihr Mißtrauen sich zu regen begann
Alice lächelte abweisend.
„Sie halfen dazu, den Mann auf die Probe
zu stellen, der mich aufrichtig zu lieben vorgab,“
sagte sie ernst. „Er hat die Probe nicht
hestanden und ich lernte seinen wahren Wert
erkennen. Sie haben mir gezeigt, wer mein
vahrer Freund ist; denn alles, was Sie
iagten, übte auf Reynold keine Wirkung aus.“
„Es freut mich aufrichtig, das zu hören,“
sagte Lady Harding. „Ich
habe nicht mehr die Kraff
und Energie von damals,
als ich Ihnen in Feindschaft
standhalten mußte. Seitdem
ich mein Ziel erreicht habe,
sehne ich mich nach Frieden;
es würde mich aufreiben, mit
Ihnen ferner im Kampfe zu
stehen.“ ze
Das rasche Aufblitzen in
Alicens Augen entaing der
Lady.
„Sie haben Ihre sichere
Stellung,“ sagte Alice, „und
nichts, was ich auch tun
möchte, könnte diese erschüt—
tern.“
„Nichts!“ wiederholte Lady
Harding; „aber ich wünsche
doch das Versprechen von
Ihnen zu hören, daß Sie
mir vergeben. Manchma
fürchte ich, vor Ihnen nicht
recht sicher zu sein. Ich
wollte, ich wäre niemals Ihre
Feindin gewesen!“
„Sie sind jetzt außerhalb
meiner Macht, vielleicht zum
Glück für uns beide,“ sagte
Alice. „Es würde mir nichts
frommen, Thomas Parsey
zu sagen, was ich längst
wußte, nämlich, daß es
James Warren war, der ihn
niederschlug. Es würde mir
keinen Nutzen bringen, zu
sagen, daß Sie es waren,
die den zerbrochenen Stock
und den Dolch in meinen
Koffer steckten — mir brächte
es keinen Nutzen und Ihnen keinen Schaden;
und mir gegenüber leugnen Sie ja nicht, daß
Sie es getan haben. Parsey ist genesen, die
Untersuchung eingestellt, und ich bin frei, wie
ich es zu sein wünschte; und Sie sind außerhalb
meiner Gewalt, sonst möchte ich vielleicht in
Bersuchung kommen, mich zu rächen.“
Lady Harding wünschte, sie hätte die Frage
nicht getan, denn der Ton dieser Antwort truqg
wenig zu ihrer Beruhigung bei.
„Was ist aus Ihrem Kinde geworden?“
fragte sie sorglos, um der Unterhaltung rasch
eine Wendung zu geben, die ihr weniger ge—
fährlich schien. „Haben Sie es gefunden?“
„Ich denke, daß es Mr. Parsey gelungen
ist.“ sautete die vorsichtige Antmart. NDas
„Er ist sehr beständig.“
„Er versicherte mich, daß er nur meinetwegen
unverheiratet geblieben sei, und ich glaube ihm.“
Lindsay und Chandos traten jetzt wieder zu
den beiden Damen und unterbrachen ihr Ge—
spräch. Alice nahm des Kapitäns Arm; sie
entwickelte zu seinem Entzücken eine Liebens—
würdigkeit, wie er sie noch nie bei einer Dame
gefunden zu haben glaubte.
Sie fuhren nach dem Hardingschen Hause
zurück und speisten daselbst. Als sich die kleine
Gesellschaft spät am Abend trennte, mußte Alice
das Versprechen geben, recht bald und recht oft
wiederzukommen. Das versprach sie auch gern,
denn es war ihr Wunsch, in dem Hause ihrer
Feindin freien Zutritt zu
erhalten.
Sie wurde mit Kapitän
Chandos bald scheinbar so
innig befreundet, daß es
Reynold leid tat, sie mit
ihm bekannt gemacht zu
haben, und jener fand Ver—
gnügen darin, diesen immer
eifersüchtiger zu machen. Es
unterlag keinem Zweifel, daß
Alice ihn begünstigte, und so
entbrannte in ihm eine Lei—
denschaft, die er kaum noch
zu bezähmen vermochte.
„Nie habe ich eine solche
Schönheit gesehen!“ sagte er
sich, vielleicht zum hundert—
sten Male, nach einem seiner
Morgenbesuche bei Alice,
„und nie hatte ich solche
Neigung, meine Freiheit zu
opfern, wie jetzt. Sie hat
zweitausend Pfund jährlich —
das weiß ich zuverlässig —
und mit zweitausend Pfund
könnten wir auf dem Kon—
tinent ein prächtiges Leben
führen“
Während er sich mit sol—⸗
chen Gedanken trug und
wieder und wieder solche
Beschlüsse faßte, beschäftigte
sich Alice eifrig mit seinen
Privatangelegenheiten, und
sowohl Hunter wie ihr An—
walt, Mr. Medwin, waren
ihr dabei nach Kräften be—
hilflich. Nachdem sie ermit—
telt, daß er tief in Schulden
stechte, beauftragte Alice den Anwalt, alle in
Umlauf befindlichen Wechsel, die auf seinen
RNamen lauteten, einzulösen, sowie alle seine
sonstigen Schulden zu bezahlen. Mr. Medwin
schüttelte bedenklich den Kopf, ihm war eine
solche Maßnahme unbegreiflich, versprach aber—
ihren Auftrag auszuführen.
Nach zwei Tagen kam er wieder und stattete
über den Erfolg seiner Bemühungen Bericht ab.
„Die Gesamtsumme seiner Schulden, soweit
sie mir bekannt geworden, beträgt eintausend—
siebenhundertundfünfzig Pfund,“ sagte er in
ruhigem Geschäftston; „aber wenn ich sie aus
Spekulation übernehmen sollte, würde ich nicht
mehr als siebenhundert Pfund dafür geben.“
Ich kaufe nicht seine Schulden. Mr. Med—
Nach einem Gemälde
Ohne Mutter. Gezeichnet von Karl Hornstein.
Zie ist ganz unberechenbar und mir vollkommen
myoverständlich
33. Kapitel.
Ein Bote des Himmels.
Die Beziehungen Alicens zu Lady Harding
vurden immer lebhafter, so daß niewmand, der
hnen sonst fern gestanden, ahnen konte, wesch
rbitterte Feindinnen sie noch vor kurzem waren
Alice machte Lady Harding niemals den leise—
ten Vorwurf, ließ niemals eine Beschuldigungç
allen. Wenn ihr Zorn einmal durch eine Be—
nerkung der Lady Harding ein wenig erreg
vurde, so richtete er sich gegen Thomas Parsey.
dennoch aber gab es Augenblicke, wo sich
Ldady Harding beklommen fühlte und sich ihrer
iine Anast bemächtigte. als sähe sie üherall