Full text: Nach der Schicht (24)

Heft 46/1928 
„Nach der Schicht“ 
vin, sondern ihn selbst mit Leib und Seele! 
Wenn ich nicht die Macht habe, ihn ins 
Hefängnis oder aus dem Lande zu treiben, 
vird er Herr über mich werden. So aber ist 
er mein Sklave; und wenn er tut, was ich 
jon ihm verlange — woran ich nicht zweifle — 
dann habe ich ihn billig erkauft. Hier nehmen 
Sie diese Banknoten und bringen Sie mir 
morgen die Wechsel und Rechnungen.“ 
„Seltsam, sehr seltsam!“ murmelte Mr. Med— 
vin vor sich hin, als er sich entfernte. „Was 
oll das heißen? Daß sie es nicht aus Liebe 
tut, weiß ich; und eine Beleidigung kann er 
ihr nicht zugefügt haben, jedenfalls aber würde 
sie aus Rache nicht seine Schulden bezäahlen 
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die Gefahr sich langsam aber beständig und 
sicher um sie her auftürmen, um dann vernich—⸗ 
tend über sie hereinzubrechen. 
„Ich kann kaum glauben, daß Sie mir 
verziehen haben,“ sagte sie eines Tages, als 
wieder ihr Mißtrauen sich zu regen begann 
Alice lächelte abweisend. 
„Sie halfen dazu, den Mann auf die Probe 
zu stellen, der mich aufrichtig zu lieben vorgab,“ 
sagte sie ernst. „Er hat die Probe nicht 
hestanden und ich lernte seinen wahren Wert 
erkennen. Sie haben mir gezeigt, wer mein 
vahrer Freund ist; denn alles, was Sie 
iagten, übte auf Reynold keine Wirkung aus.“ 
„Es freut mich aufrichtig, das zu hören,“ 
sagte Lady Harding. „Ich 
habe nicht mehr die Kraff 
und Energie von damals, 
als ich Ihnen in Feindschaft 
standhalten mußte. Seitdem 
ich mein Ziel erreicht habe, 
sehne ich mich nach Frieden; 
es würde mich aufreiben, mit 
Ihnen ferner im Kampfe zu 
stehen.“ ze 
Das rasche Aufblitzen in 
Alicens Augen entaing der 
Lady. 
„Sie haben Ihre sichere 
Stellung,“ sagte Alice, „und 
nichts, was ich auch tun 
möchte, könnte diese erschüt— 
tern.“ 
„Nichts!“ wiederholte Lady 
Harding; „aber ich wünsche 
doch das Versprechen von 
Ihnen zu hören, daß Sie 
mir vergeben. Manchma 
fürchte ich, vor Ihnen nicht 
recht sicher zu sein. Ich 
wollte, ich wäre niemals Ihre 
Feindin gewesen!“ 
„Sie sind jetzt außerhalb 
meiner Macht, vielleicht zum 
Glück für uns beide,“ sagte 
Alice. „Es würde mir nichts 
frommen, Thomas Parsey 
zu sagen, was ich längst 
wußte, nämlich, daß es 
James Warren war, der ihn 
niederschlug. Es würde mir 
keinen Nutzen bringen, zu 
sagen, daß Sie es waren, 
die den zerbrochenen Stock 
und den Dolch in meinen 
Koffer steckten — mir brächte 
es keinen Nutzen und Ihnen keinen Schaden; 
und mir gegenüber leugnen Sie ja nicht, daß 
Sie es getan haben. Parsey ist genesen, die 
Untersuchung eingestellt, und ich bin frei, wie 
ich es zu sein wünschte; und Sie sind außerhalb 
meiner Gewalt, sonst möchte ich vielleicht in 
Bersuchung kommen, mich zu rächen.“ 
Lady Harding wünschte, sie hätte die Frage 
nicht getan, denn der Ton dieser Antwort truqg 
wenig zu ihrer Beruhigung bei. 
„Was ist aus Ihrem Kinde geworden?“ 
fragte sie sorglos, um der Unterhaltung rasch 
eine Wendung zu geben, die ihr weniger ge— 
fährlich schien. „Haben Sie es gefunden?“ 
„Ich denke, daß es Mr. Parsey gelungen 
ist.“ sautete die vorsichtige Antmart. NDas 
„Er ist sehr beständig.“ 
„Er versicherte mich, daß er nur meinetwegen 
unverheiratet geblieben sei, und ich glaube ihm.“ 
Lindsay und Chandos traten jetzt wieder zu 
den beiden Damen und unterbrachen ihr Ge— 
spräch. Alice nahm des Kapitäns Arm; sie 
entwickelte zu seinem Entzücken eine Liebens— 
würdigkeit, wie er sie noch nie bei einer Dame 
gefunden zu haben glaubte. 
Sie fuhren nach dem Hardingschen Hause 
zurück und speisten daselbst. Als sich die kleine 
Gesellschaft spät am Abend trennte, mußte Alice 
das Versprechen geben, recht bald und recht oft 
wiederzukommen. Das versprach sie auch gern, 
denn es war ihr Wunsch, in dem Hause ihrer 
Feindin freien Zutritt zu 
erhalten. 
Sie wurde mit Kapitän 
Chandos bald scheinbar so 
innig befreundet, daß es 
Reynold leid tat, sie mit 
ihm bekannt gemacht zu 
haben, und jener fand Ver— 
gnügen darin, diesen immer 
eifersüchtiger zu machen. Es 
unterlag keinem Zweifel, daß 
Alice ihn begünstigte, und so 
entbrannte in ihm eine Lei— 
denschaft, die er kaum noch 
zu bezähmen vermochte. 
„Nie habe ich eine solche 
Schönheit gesehen!“ sagte er 
sich, vielleicht zum hundert— 
sten Male, nach einem seiner 
Morgenbesuche bei Alice, 
„und nie hatte ich solche 
Neigung, meine Freiheit zu 
opfern, wie jetzt. Sie hat 
zweitausend Pfund jährlich — 
das weiß ich zuverlässig — 
und mit zweitausend Pfund 
könnten wir auf dem Kon— 
tinent ein prächtiges Leben 
führen“ 
Während er sich mit sol—⸗ 
chen Gedanken trug und 
wieder und wieder solche 
Beschlüsse faßte, beschäftigte 
sich Alice eifrig mit seinen 
Privatangelegenheiten, und 
sowohl Hunter wie ihr An— 
walt, Mr. Medwin, waren 
ihr dabei nach Kräften be— 
hilflich. Nachdem sie ermit— 
telt, daß er tief in Schulden 
stechte, beauftragte Alice den Anwalt, alle in 
Umlauf befindlichen Wechsel, die auf seinen 
RNamen lauteten, einzulösen, sowie alle seine 
sonstigen Schulden zu bezahlen. Mr. Medwin 
schüttelte bedenklich den Kopf, ihm war eine 
solche Maßnahme unbegreiflich, versprach aber— 
ihren Auftrag auszuführen. 
Nach zwei Tagen kam er wieder und stattete 
über den Erfolg seiner Bemühungen Bericht ab. 
„Die Gesamtsumme seiner Schulden, soweit 
sie mir bekannt geworden, beträgt eintausend— 
siebenhundertundfünfzig Pfund,“ sagte er in 
ruhigem Geschäftston; „aber wenn ich sie aus 
Spekulation übernehmen sollte, würde ich nicht 
mehr als siebenhundert Pfund dafür geben.“ 
Ich kaufe nicht seine Schulden. Mr. Med— 
Nach einem Gemälde 
Ohne Mutter. Gezeichnet von Karl Hornstein. 
Zie ist ganz unberechenbar und mir vollkommen 
myoverständlich 
33. Kapitel. 
Ein Bote des Himmels. 
Die Beziehungen Alicens zu Lady Harding 
vurden immer lebhafter, so daß niewmand, der 
hnen sonst fern gestanden, ahnen konte, wesch 
rbitterte Feindinnen sie noch vor kurzem waren 
Alice machte Lady Harding niemals den leise— 
ten Vorwurf, ließ niemals eine Beschuldigungç 
allen. Wenn ihr Zorn einmal durch eine Be— 
nerkung der Lady Harding ein wenig erreg 
vurde, so richtete er sich gegen Thomas Parsey. 
dennoch aber gab es Augenblicke, wo sich 
Ldady Harding beklommen fühlte und sich ihrer 
iine Anast bemächtigte. als sähe sie üherall
	        
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