Heft 3/1928
uns erst näher kennen lernen. Wie bald kannst
du zur Abreise bereit sein, Al.ce?“
„Sogleich, wenn Sie es würschen,“ erwiderte
das Mädchen und fügte mit schmerzlichem
Lächeln leise hinzu: „Ich habe nicht viel zu
vacken.“
„In einer halben Stunde?“
„Ja.“
„Gut, dann können wir zur rechten Zeit
den Zug erreichen, welcher um fünf Uhr von
Ldangford nach London fährt.“
Alice eilte aus dem Zimmer. Ihr neuer
Beschützer aber, welcher ihr nachsah, bis sie
die Tür hinter sich zugemacht hatte, wandte
sich jetzt an Miß Pitt.
„Ich hoffe, daß Sie gegen die plötzliche Ab—
reise Ihrer Nichte nichts einzuwenden haben.
Miß Pitt.“ sagte er kalt.
„Durchaus nicht,“ entgegnete diese tonlos.
‚Sie sind ja ihr Vormund und haben als
solcher das Recht, über das Mädchen zu ver—
fügen. Zwar haben Sie noch nicht bewiesen,
daß Sie wirklich ihr Vormund sind. doch ich
glaube Ihren Wor!en.“
Lord Sylvan Temple zog das Schreiben
aus der Tasche, welches sein vorsorglicher
Freund auf dem Sterbelager ihm überreicht
hatte, und gab es der Frau.
„Genügt Ihnen das?“ fragte er.
Miß Pitt rückte die Brille zurecht und warf
einen flüchsigen Blick auf die wenigen Zeilen:
dann gab sie das Blatt zurück.
„Es genügt vollkommen,“ sagte sie und fuhr
nach einer Weile fort: „Es ist eine schwere
Aufgabe, der Sie sich unterziehen. Lord Sylvan
Temple, Sie werden ein wachsames Auge auf
das Mädchen haben müssen.“
„Machen Sie sich darücer keine Sorge, Miß
Pitt,“ rersetzte Lord Temple ewas gereizt, denn
die Ermahnung der Alten kränkte ihn. „Sie
ist bei mir gewiß so gut aufgehoben wie bei
Ihnen.“
„Das denken Sie in Ihyrem Stolz; aber Sie
werden bald erfahren, daß meine Warnung
nicht ohne Grund war. Mir hat das Mädchen
großen Kummer gemacht, obwohl ich sie in der
Liebe und Furcht des Herrn erzogen habe und
ihr in diesem Buch den Weg zum ewigen
Leben zeigte.“
Sie legte ihre dünne Hand auf die Bibel
und sandte dabei einen frommen Baick nach der
Decke ihres Zimmers.
„Ich habe Ihnen noch einiges mitzuteilen.
Lord Sylvan Temple,“ fuhr sie dann mit
rauher Stimme fort. „Wollen Sie mich an—
hören?“
„Nicht, wenn Ihre Mitteilungen etwas ent—
jalten, was gegen die arme Alice gerichtet ist!“
entgegnete er bestimmt. Er sagte sich, daß diese
Frau nichts Vorteilhaftes von dem Mädchen,
nichts Gutes von irgend einem Menschen sagen
konnte. Ihr Augenverdrehen und ihr steter
Hinweis auf die Bibel, die sie so gänzlich falsch
verstand, erfüllten iyn mit Widerwillen gegen
iie. „Ich will nichts Nachteiliges über Annas
und meines Freundes Tochter hören — wenig—
tens von Ihnen nicht. Ich sehe wohl, was ihr
nangelt, aber das wird bald ausgeglichen
verden, Miß Pitt. Alice soll gute Lehrer
zaben, sie soll erzogen und es soll für sie
jesorgt werden, wie es meiner Mündel zu—
2znmmt“
„Nach der Schicht“
„Aliece bedarf keiner Erziehyung meyr, Lord
demple,“ unterbrach ihn die Tante Ursula krei—
chend. „Ihre Eriehung war meine Aufgabe,
die ich — ich kann es mit Stolz sagen —
vis zur Vollendung erfüllt habe. Ich weiß,
was die Welt von einem jungen Mädchen for—
ert, denn ich wurde in meiner Jugend auch
chön genannt — was zu sagen jetzt, da ich
einahe sechzsig Jahre alt bin, mir wohl er—
aubt sein wird; — ich sprach mehrere fremde
00000000000000
Verehrung der Menschwerdung
des Sohncs Gottes.
Ringoum Wald und Fluren prangen
Reisbehangen.
Urd in atemloser Stille
S!terrt in ihrer W'nterhülle
Jetzt d'e Landschaft allzumal,
—A
Welch' gehermnisvolles Schweigen
In den Zwergen!
Frercht und Wa'dbaum träumend stehen,
Träumend sie den Frühling sehen,
Der sie schöpferisch erneut
Vor der Zett.
Und der Reif, der ihre Glieder
Berget nieder.
Dünket sich vom Wonnekinde,
Ein gar teures Angebinde,
Das in süßer Traumesnacht
Ihnen lacht.
Wie das Kirchlein dort erglänzet
Ve sorruannget
Wie der Sonnenstrahl die weißen
Eis“ ristalle macht ergleßen!
Heute Weintersschmuck d'ir frommt:
Christbind kommt!
Bald der Abend niedersinket
Urd es bliinket
Tausendfackes Sterngeflimmer.
hel'ger Weihnachtskeren Schimmer
Rieder von dem Himmelszelt
Auf die Welt.
Horch, in mitternücht'ger Stunde
Frohe Kunde,
Daß der Himmel niederneige,
Frerndlich sich der Erd' erzeige,
Sende Gottes Friedenskind
Leis und lind.
O dann welch ein Jubiliren,
Psallod:ren!
Dort in hehren lichterfüllten
Räumen, hier in nachtumhüllten,
Tönt dem Kindlein fern und nah:
Gloria!
DOOOOOOOOOOOOCO
5prachen geläufig, konnte tanzen, spielen und
inçen; ich hatte eine Stimme, so rein und
ieblich wie die ihrige und war stets, wo und
bann ich mich sehen ließ, von Anbetern um—
chwärmt. Aber ich habe sie geflohen, denn
ch kannte ihre Schwächen und Laster und
jabe gegen ihre Versuchungen mir immer Stär—
zung und Rat hier gesucht.“
Wieder ließ sie ihre Hand schwer auf die
jor ihr liegende Bibel fallen.
„Arme Alice!“ dachte Sir Sylran. „Sie
hat eine strenge Lehre in gehabt. Kein Wunder,
zaßk ihre Augen so trübe blicken!“
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Er sah einen Augenblick gedankenvoll vor
sich nieder, dann sagte er:
„Sie sind arm, Miß Pitt, wie ich von
Mr. Sherwin vernommen habe. Vielleicht wer—
den Sie mir erlauben, Ihnen einige Erleich—
erungen für die Zukunft ...“
„Ich habe genug zum Leben — ich nehme
zein Almosen an!“ fiel sie ihm ins Wort.
„Entschuldigen Sie, ich meinte nicht —“
Miß Pitt gebot ihm mit einer ungeduldigen
Handbewegung Schweigen.
„Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf
Erden, da sie die Motten und der Rost fressen
und da die Diebe nachgraben und stehlen, sagt
die Bibel,“ sprach sie mit Pathos. „Ich habe
so viel, als ich brauche, und hätte Alice niemals
den Schutz meines Daches verweigert, obwohl
sie meine alten Tage unaussprechlich verküm—
mert hat. Nehmen Sie sie hin, wie sie ist,
aber seien Sie auf der Hut, daß sie nicht noch
in ande es Herz verbittert!“
„Miß Pitt!“
„Ich habe nichts mehr zu sagen. Aber ver—
zessen Sie nicht, daß ich Sie gewarnt habe!“
„Diese Warnung ist unnötig,“ sagte Sir Syl⸗
nan ruhig. „Ich habe bereits gehört —“
„Was haben Sie gehört?“
„Alles! Bedenken Sie, Miß Pitt, daß Alice
dor einem Jahre nur noch ein Kind war und
daß das, was zwischen ihr und Mr. Parsey
oorçing, nich!s weiter als eine Unbesonnenheit
zu nennen ist.“
„Wenn Sie nicht schlimmer darüber denken
möge Gott Ihnen beiden helfen!“
Lord Temple wandte sich kurz um, nahm
einen Hut und schritt der Tür zu. indem er
agte:
„Ich will mir die Umgegend ein wenig an—
ehen, während Auce sich zur Abreise fertig
nacht. Ich werde bald wieder zurück sein.“
Er ging hinaus, zündete sich eine Zigarre an
ind schlenderte die Straße entlang dem kleinen
Wäldchen zu, welches das Dorf zur Hälfte
uimschloß, wobei er über die Warnung der
Tante Ursula grübele. Obwohl er wenig Ge—
vicht auf ihr Gerede legte, so gab es ihm,
in Verbindung mit den vieldeutigen Aeuße—
rungen des Gastwirts, doch Veranlassung zu
Hedanken und Befürchtungen. Diese schwanden
aber sofort, wenn er an die liebliche Erscheinung
des jungen Mädchens mit den sanften, sorgen—
yollen Augen dachte, das ihn so lebhaft an die
Mutter erinnerte. Alice erschien ihm dann wie
ein unschuldiges Kind, das in übertriebenem
»der falschem Rechtlichkeitssinn von einfältigen
Leuten verkannt oder verleumdet worden war.
Er sah nach der Uhr und fand, daß es Zeit
var, ins Haus zurückzukehren. Als er es
etrat, stand Ace schon zur Abreise bereit.
Zie hatte ein graues Kleid an und einen
chwarzen, einfachen Mantel darüber geworfen.
zhr Kopf war mit einem Strohhut, der mit
inem kleinen Bukett künstlicher Blumen ge—
chmückt war, bedeckt, und ihr Gesichtchen schaute
zJar lieblich unter der breiten Krämpe hervor.
Reben ihr stand ein alter Koffer, in dem sich
hre geringe Habe befand.
„Was hast du denn da in diesem alten
Kasten, Alice?“ fragte der Baron lachend, in⸗
dem er auf den Koffer zeigte.
„Meire Sachen,“ antwortete das Mädchen
nit einem Anfluq von Trauriakeit. ·mein