Full text: Nach der Schicht (24)

Heft 3/1928 
uns erst näher kennen lernen. Wie bald kannst 
du zur Abreise bereit sein, Al.ce?“ 
„Sogleich, wenn Sie es würschen,“ erwiderte 
das Mädchen und fügte mit schmerzlichem 
Lächeln leise hinzu: „Ich habe nicht viel zu 
vacken.“ 
„In einer halben Stunde?“ 
„Ja.“ 
„Gut, dann können wir zur rechten Zeit 
den Zug erreichen, welcher um fünf Uhr von 
Ldangford nach London fährt.“ 
Alice eilte aus dem Zimmer. Ihr neuer 
Beschützer aber, welcher ihr nachsah, bis sie 
die Tür hinter sich zugemacht hatte, wandte 
sich jetzt an Miß Pitt. 
„Ich hoffe, daß Sie gegen die plötzliche Ab— 
reise Ihrer Nichte nichts einzuwenden haben. 
Miß Pitt.“ sagte er kalt. 
„Durchaus nicht,“ entgegnete diese tonlos. 
‚Sie sind ja ihr Vormund und haben als 
solcher das Recht, über das Mädchen zu ver— 
fügen. Zwar haben Sie noch nicht bewiesen, 
daß Sie wirklich ihr Vormund sind. doch ich 
glaube Ihren Wor!en.“ 
Lord Sylvan Temple zog das Schreiben 
aus der Tasche, welches sein vorsorglicher 
Freund auf dem Sterbelager ihm überreicht 
hatte, und gab es der Frau. 
„Genügt Ihnen das?“ fragte er. 
Miß Pitt rückte die Brille zurecht und warf 
einen flüchsigen Blick auf die wenigen Zeilen: 
dann gab sie das Blatt zurück. 
„Es genügt vollkommen,“ sagte sie und fuhr 
nach einer Weile fort: „Es ist eine schwere 
Aufgabe, der Sie sich unterziehen. Lord Sylvan 
Temple, Sie werden ein wachsames Auge auf 
das Mädchen haben müssen.“ 
„Machen Sie sich darücer keine Sorge, Miß 
Pitt,“ rersetzte Lord Temple ewas gereizt, denn 
die Ermahnung der Alten kränkte ihn. „Sie 
ist bei mir gewiß so gut aufgehoben wie bei 
Ihnen.“ 
„Das denken Sie in Ihyrem Stolz; aber Sie 
werden bald erfahren, daß meine Warnung 
nicht ohne Grund war. Mir hat das Mädchen 
großen Kummer gemacht, obwohl ich sie in der 
Liebe und Furcht des Herrn erzogen habe und 
ihr in diesem Buch den Weg zum ewigen 
Leben zeigte.“ 
Sie legte ihre dünne Hand auf die Bibel 
und sandte dabei einen frommen Baick nach der 
Decke ihres Zimmers. 
„Ich habe Ihnen noch einiges mitzuteilen. 
Lord Sylvan Temple,“ fuhr sie dann mit 
rauher Stimme fort. „Wollen Sie mich an— 
hören?“ 
„Nicht, wenn Ihre Mitteilungen etwas ent— 
jalten, was gegen die arme Alice gerichtet ist!“ 
entgegnete er bestimmt. Er sagte sich, daß diese 
Frau nichts Vorteilhaftes von dem Mädchen, 
nichts Gutes von irgend einem Menschen sagen 
konnte. Ihr Augenverdrehen und ihr steter 
Hinweis auf die Bibel, die sie so gänzlich falsch 
verstand, erfüllten iyn mit Widerwillen gegen 
iie. „Ich will nichts Nachteiliges über Annas 
und meines Freundes Tochter hören — wenig— 
tens von Ihnen nicht. Ich sehe wohl, was ihr 
nangelt, aber das wird bald ausgeglichen 
verden, Miß Pitt. Alice soll gute Lehrer 
zaben, sie soll erzogen und es soll für sie 
jesorgt werden, wie es meiner Mündel zu— 
2znmmt“ 
„Nach der Schicht“ 
„Aliece bedarf keiner Erziehyung meyr, Lord 
demple,“ unterbrach ihn die Tante Ursula krei— 
chend. „Ihre Eriehung war meine Aufgabe, 
die ich — ich kann es mit Stolz sagen — 
vis zur Vollendung erfüllt habe. Ich weiß, 
was die Welt von einem jungen Mädchen for— 
ert, denn ich wurde in meiner Jugend auch 
chön genannt — was zu sagen jetzt, da ich 
einahe sechzsig Jahre alt bin, mir wohl er— 
aubt sein wird; — ich sprach mehrere fremde 
00000000000000 
Verehrung der Menschwerdung 
des Sohncs Gottes. 
Ringoum Wald und Fluren prangen 
Reisbehangen. 
Urd in atemloser Stille 
S!terrt in ihrer W'nterhülle 
Jetzt d'e Landschaft allzumal, 
—A 
Welch' gehermnisvolles Schweigen 
In den Zwergen! 
Frercht und Wa'dbaum träumend stehen, 
Träumend sie den Frühling sehen, 
Der sie schöpferisch erneut 
Vor der Zett. 
Und der Reif, der ihre Glieder 
Berget nieder. 
Dünket sich vom Wonnekinde, 
Ein gar teures Angebinde, 
Das in süßer Traumesnacht 
Ihnen lacht. 
Wie das Kirchlein dort erglänzet 
Ve sorruannget 
Wie der Sonnenstrahl die weißen 
Eis“ ristalle macht ergleßen! 
Heute Weintersschmuck d'ir frommt: 
Christbind kommt! 
Bald der Abend niedersinket 
Urd es bliinket 
Tausendfackes Sterngeflimmer. 
hel'ger Weihnachtskeren Schimmer 
Rieder von dem Himmelszelt 
Auf die Welt. 
Horch, in mitternücht'ger Stunde 
Frohe Kunde, 
Daß der Himmel niederneige, 
Frerndlich sich der Erd' erzeige, 
Sende Gottes Friedenskind 
Leis und lind. 
O dann welch ein Jubiliren, 
Psallod:ren! 
Dort in hehren lichterfüllten 
Räumen, hier in nachtumhüllten, 
Tönt dem Kindlein fern und nah: 
Gloria! 
DOOOOOOOOOOOOCO 
5prachen geläufig, konnte tanzen, spielen und 
inçen; ich hatte eine Stimme, so rein und 
ieblich wie die ihrige und war stets, wo und 
bann ich mich sehen ließ, von Anbetern um— 
chwärmt. Aber ich habe sie geflohen, denn 
ch kannte ihre Schwächen und Laster und 
jabe gegen ihre Versuchungen mir immer Stär— 
zung und Rat hier gesucht.“ 
Wieder ließ sie ihre Hand schwer auf die 
jor ihr liegende Bibel fallen. 
„Arme Alice!“ dachte Sir Sylran. „Sie 
hat eine strenge Lehre in gehabt. Kein Wunder, 
zaßk ihre Augen so trübe blicken!“ 
Seite 35 
Er sah einen Augenblick gedankenvoll vor 
sich nieder, dann sagte er: 
„Sie sind arm, Miß Pitt, wie ich von 
Mr. Sherwin vernommen habe. Vielleicht wer— 
den Sie mir erlauben, Ihnen einige Erleich— 
erungen für die Zukunft ...“ 
„Ich habe genug zum Leben — ich nehme 
zein Almosen an!“ fiel sie ihm ins Wort. 
„Entschuldigen Sie, ich meinte nicht —“ 
Miß Pitt gebot ihm mit einer ungeduldigen 
Handbewegung Schweigen. 
„Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf 
Erden, da sie die Motten und der Rost fressen 
und da die Diebe nachgraben und stehlen, sagt 
die Bibel,“ sprach sie mit Pathos. „Ich habe 
so viel, als ich brauche, und hätte Alice niemals 
den Schutz meines Daches verweigert, obwohl 
sie meine alten Tage unaussprechlich verküm— 
mert hat. Nehmen Sie sie hin, wie sie ist, 
aber seien Sie auf der Hut, daß sie nicht noch 
in ande es Herz verbittert!“ 
„Miß Pitt!“ 
„Ich habe nichts mehr zu sagen. Aber ver— 
zessen Sie nicht, daß ich Sie gewarnt habe!“ 
„Diese Warnung ist unnötig,“ sagte Sir Syl⸗ 
nan ruhig. „Ich habe bereits gehört —“ 
„Was haben Sie gehört?“ 
„Alles! Bedenken Sie, Miß Pitt, daß Alice 
dor einem Jahre nur noch ein Kind war und 
daß das, was zwischen ihr und Mr. Parsey 
oorçing, nich!s weiter als eine Unbesonnenheit 
zu nennen ist.“ 
„Wenn Sie nicht schlimmer darüber denken 
möge Gott Ihnen beiden helfen!“ 
Lord Temple wandte sich kurz um, nahm 
einen Hut und schritt der Tür zu. indem er 
agte: 
„Ich will mir die Umgegend ein wenig an— 
ehen, während Auce sich zur Abreise fertig 
nacht. Ich werde bald wieder zurück sein.“ 
Er ging hinaus, zündete sich eine Zigarre an 
ind schlenderte die Straße entlang dem kleinen 
Wäldchen zu, welches das Dorf zur Hälfte 
uimschloß, wobei er über die Warnung der 
Tante Ursula grübele. Obwohl er wenig Ge— 
vicht auf ihr Gerede legte, so gab es ihm, 
in Verbindung mit den vieldeutigen Aeuße— 
rungen des Gastwirts, doch Veranlassung zu 
Hedanken und Befürchtungen. Diese schwanden 
aber sofort, wenn er an die liebliche Erscheinung 
des jungen Mädchens mit den sanften, sorgen— 
yollen Augen dachte, das ihn so lebhaft an die 
Mutter erinnerte. Alice erschien ihm dann wie 
ein unschuldiges Kind, das in übertriebenem 
»der falschem Rechtlichkeitssinn von einfältigen 
Leuten verkannt oder verleumdet worden war. 
Er sah nach der Uhr und fand, daß es Zeit 
var, ins Haus zurückzukehren. Als er es 
etrat, stand Ace schon zur Abreise bereit. 
Zie hatte ein graues Kleid an und einen 
chwarzen, einfachen Mantel darüber geworfen. 
zhr Kopf war mit einem Strohhut, der mit 
inem kleinen Bukett künstlicher Blumen ge— 
chmückt war, bedeckt, und ihr Gesichtchen schaute 
zJar lieblich unter der breiten Krämpe hervor. 
Reben ihr stand ein alter Koffer, in dem sich 
hre geringe Habe befand. 
„Was hast du denn da in diesem alten 
Kasten, Alice?“ fragte der Baron lachend, in⸗ 
dem er auf den Koffer zeigte. 
„Meire Sachen,“ antwortete das Mädchen 
nit einem Anfluq von Trauriakeit. ·mein
	        
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