Seite 4 Mach der Schich“
in Zurückgezogenheit mit unserm uns noch Sherwin drückte die dargereichte Hand innig,
gebliebenen Kinde leben wollten, da — da indem er sagte:
starb sie.“ „Dank, tausendmal Dank! Das ist noch
Er legte den Kopf zurück und schwieg. Das das alte gute Herz.“
Sprechen strengte ihn sichtlich an und es be— „Du warst mit deiner Erzählung noch nicht
durfte einiger Zeit, ehe er sich wieder erholt zu Ende,“ mahnte Temple sanft, als der Kranke
hatte, um in seiner Erzählung fortfahren zu lange schweigend vor sich hinblickte.
können. „Ja, ja,“ antwortete dieser, wie aus einem
Lord Temple hatte aufmerksam und mit Traume erwachend. „Ich verkaufte al.es, was
der innigsten Teilnahme zugehört, und als ich noch an Wertgegenständen besaß, und fuhr
Sherwin schwieg, entschlüpften seinen Lippen mit dem nächsten Schitf nach England zurück.
unwillkürlich wieder die Worte: Die Entbehrung geistiger Getränke, an die ich
„Arme Anna!“ so sehr gewöhnt war, hatte während der langen
„Mit mir selbst,“ begann Sherwin endlich Fahrt meiner ohnehin zerrütteten Gesundheit
wieder, „ging in jener Zeit infolge des BVer- goch mehr geschadet, und so kam ich krank
lustes von Frau und Kindern eine große Ver⸗- ind elend in London an. Ich blieb die Nacht
anderung vor. Hatte ich schon seit längerer über in einem Gasthof niedersten Ranges und
Zeit mich auf eine Weise zu zerstreuen gesucht, entschädigte mich, da ich noch einige Schillinge
die ich früher verabscheut hatte, so warf ich esaß, für die lange Entbehrung, in der Hoff⸗
mich jetzt ganz dem Trunk und Spiel in die nung, mich durch die Svirituosen einigermaßen
Arme. Mach' mir keine Vorwübfe,
Sylvan, ich habe sie mir schon selbst
gemacht.“ sügte er rasch hinzu, als er
sah. wie sein Freund unwillige Be—
wegungen machte. „Mehrmals nahm
sich mir auch ernstlich vor, ein uhalten
und mich zu bessern, aber ich war
nicht mehr Herr meiner selbst. Der
Drang nach Zerstreuung. nach Auf—⸗
regung, um meinen Schmerz zu er—
sticken, war zu stark, das Laster be⸗—
reits in mir zu fest gewurzelt, als daß
ich mich hätte losreißen können.“
Schwer atmend und erschöpfend hielt
er inne. Die Erinnerung an seine
traurige Vergangenheit griff ihn mehr
an als selbst das Sprechen.
„Die nächste Folge meines wüsten
Lebens war,“ fuhr er nach längerer
Pause fort, „daß ich meinen Dienst
vernachlässigte und meinen Abschied
nehmen mußte. Aller Existenzmittel
beraubt — mein Vermögen hatte ich
längst durchgebracht — ohne die
Fähigkeit zu einer mir zusagenden
lohnenden Arbeit, blieb mir nichts
lübrig als — der Tod. In einer verzweiflungs⸗
vollen Stunde faßte ich den Entschluß, meinem
elenden Leben ein Ende zu machen. Als ich
aber diesen Entschluß ausführen wollte, dachte
ich an mein einziges Kind in England, und
eine namenlose Sehnsucht erfaßte mein Herz.
Die Hand, welche die Pistole umklammerte,
sank an meine Seite und ich bebte zurück vor
dem Schritte, den ich tun wollte. Meine Toch—
ter noch einmal zu sehen, war mein glühendster
Wunsch. Mein armes Kind, das ich unversorg!
so gänzlich mittellöss in der Welt zurücklassen
mußte und zwar durch meine eigne Schuld!
Da dachte ich an dich. Sylvan, und an deine
Worte: „Bedenke, daß du dich nach fünfzig
Jahren, wie jetzt, auf mich verlassen kannst als
auf einen alten treuen Freund!“ Und es trieb
mich zurück zu dir. Sylvan, wie zu ihr. Dir
wollte ich mein Kind überliefern, deiner Sorge
wollte ich es anvertrauen; denn ich wußte, du
würdest ihm um Annas willen ein Vater sein
— ein besserer Vater, als ich es war —“
„Du sollst dich in mir nicht getäuscht haben.“
flel ihm Temple bewegt ins Wort, indem er
dem Freunde die Hand reichte. „Ich werde an
deiner Tochter tun. was ich kann“
Postümprobe. Mach einer vuotogr. Aufnahme
Heft 1/1928
dir Vollmacht über meine Tochter. Ich habe
hn geschrieben, weil ich fürchtete, du möchtest
uicht sogleich kammen können und mich dann
als Leiche finden.“
Er zog bei diesen Worten einen versiegelten
Brief unter dem Kissen hervor und reichte ihn
dem Freunde. Dieser nahm ihn und steckte ihn
ungeöffnet in die Brusttasche seines Rockes.
„Er mag noch immer seine Dienste tun,“ fügte
Sherwin hinzu, „wenn dir von ihrer Tante
oder von sonst jemand etwa Schwierigkeiten
in den Weg gelegt werden.“
Wieder trat eine Pause ein. Der Kranke
'ag vollständig erschöpft da; das Sprechen hatte
hn derartig angestrengt, daß er kaum den
opf bewegen konnte. Sir Sylvan ließ seinen
Blichk durch das Zimmer und über die anderen
Tranken schweifen. Ein Schauder durch ieselte
einen Körper, als er all das Elend, all den
Jammer sah.
.Du mußt fort von hier, Fred,“
sagte er leise, sich über den kranken
Freund beugend. „Ich will deine
Ueberführung nach meinem Hause an⸗
ordnen, wo du unter Aufsicht eines
tüchtigen Wärters und mit Hilfe mei⸗
nes Arztes viell icht wiederhergestellt
wirst —“
„Rein, nein!“ unterbrach ihn der
Kranke mit sichtlicher Anstrengung.
„Es ist zu spät! Laß mich hier;
es wird bald vorvei sein!“
„Wünschest du deine Tochter noch
einmal zu sehen?“ fragte Sir Sylvan,
der selbst sah, daß der Kranke recht
hatte. „Soll ich sie zu dir führen?“
„Nein! Ich möch'!e nicht, daß meine
Tochter erfährt, daß ich hier gestorben
bin; suche es ihr zu verheimlichen. Ich
bin beruhigt, da ich sie jetzt wenigstens
versorgt weiß.“
„Hast du sonst noch einen Wunsch?“
tragte Sir Sylvan sanft.
„Nur den, daß mein Vermächtnis
dir zur Freude gereiche und daß Gott
deine Liebe und Freundschaft reich
dergeltenmöge!“
Er schloß die Augen. Die letzten Worte
waren so schwach gesprochen, daß Sir Sylvan
es für das beste hielt, den Kranken jetzt allein
zu lassen. Er erfaßte seine Hand und flüsterte
ihm, indem er sich über ihn beugte, ins Ohr:
„Ich werde am Nachmittag wiederkommen
ind hoffe, dich dann besser zu finden.“
Sherwin erwiderte leise den Druck selnei
Hand, richtete noch einen dankbaren Bück auf
den Freund und schloß dann die Augen wieder
Es war für immer. (Fortsetzung folat.
6 66 66gÊs
Das neue Jahr.
Das neugeborne Kindelein,
Das herzensliebe Jesulein.
Bringt abermals ein neues Jahr
Der auserwählten Christenschar.
Des freuen sich die Engelein.
Die sigte um und bei uns sein;
Sie singen in den Lüften frei,
Daß Gott mit uns versöhnet sei.
Es bringt das rechte Jubeljahr.
Was trauern wir denn immerdar?
Frisch auf. es ist jetzt Singens Zeit,
Das Jesulein wend'i alles Leid!
Rolksout. 1600