Full text: Nach der Schicht (24)

Seite 4 Mach der Schich“ 
in Zurückgezogenheit mit unserm uns noch Sherwin drückte die dargereichte Hand innig, 
gebliebenen Kinde leben wollten, da — da indem er sagte: 
starb sie.“ „Dank, tausendmal Dank! Das ist noch 
Er legte den Kopf zurück und schwieg. Das das alte gute Herz.“ 
Sprechen strengte ihn sichtlich an und es be— „Du warst mit deiner Erzählung noch nicht 
durfte einiger Zeit, ehe er sich wieder erholt zu Ende,“ mahnte Temple sanft, als der Kranke 
hatte, um in seiner Erzählung fortfahren zu lange schweigend vor sich hinblickte. 
können. „Ja, ja,“ antwortete dieser, wie aus einem 
Lord Temple hatte aufmerksam und mit Traume erwachend. „Ich verkaufte al.es, was 
der innigsten Teilnahme zugehört, und als ich noch an Wertgegenständen besaß, und fuhr 
Sherwin schwieg, entschlüpften seinen Lippen mit dem nächsten Schitf nach England zurück. 
unwillkürlich wieder die Worte: Die Entbehrung geistiger Getränke, an die ich 
„Arme Anna!“ so sehr gewöhnt war, hatte während der langen 
„Mit mir selbst,“ begann Sherwin endlich Fahrt meiner ohnehin zerrütteten Gesundheit 
wieder, „ging in jener Zeit infolge des BVer- goch mehr geschadet, und so kam ich krank 
lustes von Frau und Kindern eine große Ver⸗- ind elend in London an. Ich blieb die Nacht 
anderung vor. Hatte ich schon seit längerer über in einem Gasthof niedersten Ranges und 
Zeit mich auf eine Weise zu zerstreuen gesucht, entschädigte mich, da ich noch einige Schillinge 
die ich früher verabscheut hatte, so warf ich esaß, für die lange Entbehrung, in der Hoff⸗ 
mich jetzt ganz dem Trunk und Spiel in die nung, mich durch die Svirituosen einigermaßen 
Arme. Mach' mir keine Vorwübfe, 
Sylvan, ich habe sie mir schon selbst 
gemacht.“ sügte er rasch hinzu, als er 
sah. wie sein Freund unwillige Be— 
wegungen machte. „Mehrmals nahm 
sich mir auch ernstlich vor, ein uhalten 
und mich zu bessern, aber ich war 
nicht mehr Herr meiner selbst. Der 
Drang nach Zerstreuung. nach Auf—⸗ 
regung, um meinen Schmerz zu er— 
sticken, war zu stark, das Laster be⸗— 
reits in mir zu fest gewurzelt, als daß 
ich mich hätte losreißen können.“ 
Schwer atmend und erschöpfend hielt 
er inne. Die Erinnerung an seine 
traurige Vergangenheit griff ihn mehr 
an als selbst das Sprechen. 
„Die nächste Folge meines wüsten 
Lebens war,“ fuhr er nach längerer 
Pause fort, „daß ich meinen Dienst 
vernachlässigte und meinen Abschied 
nehmen mußte. Aller Existenzmittel 
beraubt — mein Vermögen hatte ich 
längst durchgebracht — ohne die 
Fähigkeit zu einer mir zusagenden 
lohnenden Arbeit, blieb mir nichts 
lübrig als — der Tod. In einer verzweiflungs⸗ 
vollen Stunde faßte ich den Entschluß, meinem 
elenden Leben ein Ende zu machen. Als ich 
aber diesen Entschluß ausführen wollte, dachte 
ich an mein einziges Kind in England, und 
eine namenlose Sehnsucht erfaßte mein Herz. 
Die Hand, welche die Pistole umklammerte, 
sank an meine Seite und ich bebte zurück vor 
dem Schritte, den ich tun wollte. Meine Toch— 
ter noch einmal zu sehen, war mein glühendster 
Wunsch. Mein armes Kind, das ich unversorg! 
so gänzlich mittellöss in der Welt zurücklassen 
mußte und zwar durch meine eigne Schuld! 
Da dachte ich an dich. Sylvan, und an deine 
Worte: „Bedenke, daß du dich nach fünfzig 
Jahren, wie jetzt, auf mich verlassen kannst als 
auf einen alten treuen Freund!“ Und es trieb 
mich zurück zu dir. Sylvan, wie zu ihr. Dir 
wollte ich mein Kind überliefern, deiner Sorge 
wollte ich es anvertrauen; denn ich wußte, du 
würdest ihm um Annas willen ein Vater sein 
— ein besserer Vater, als ich es war —“ 
„Du sollst dich in mir nicht getäuscht haben.“ 
flel ihm Temple bewegt ins Wort, indem er 
dem Freunde die Hand reichte. „Ich werde an 
deiner Tochter tun. was ich kann“ 
Postümprobe. Mach einer vuotogr. Aufnahme 
Heft 1/1928 
dir Vollmacht über meine Tochter. Ich habe 
hn geschrieben, weil ich fürchtete, du möchtest 
uicht sogleich kammen können und mich dann 
als Leiche finden.“ 
Er zog bei diesen Worten einen versiegelten 
Brief unter dem Kissen hervor und reichte ihn 
dem Freunde. Dieser nahm ihn und steckte ihn 
ungeöffnet in die Brusttasche seines Rockes. 
„Er mag noch immer seine Dienste tun,“ fügte 
Sherwin hinzu, „wenn dir von ihrer Tante 
oder von sonst jemand etwa Schwierigkeiten 
in den Weg gelegt werden.“ 
Wieder trat eine Pause ein. Der Kranke 
'ag vollständig erschöpft da; das Sprechen hatte 
hn derartig angestrengt, daß er kaum den 
opf bewegen konnte. Sir Sylvan ließ seinen 
Blichk durch das Zimmer und über die anderen 
Tranken schweifen. Ein Schauder durch ieselte 
einen Körper, als er all das Elend, all den 
Jammer sah. 
.Du mußt fort von hier, Fred,“ 
sagte er leise, sich über den kranken 
Freund beugend. „Ich will deine 
Ueberführung nach meinem Hause an⸗ 
ordnen, wo du unter Aufsicht eines 
tüchtigen Wärters und mit Hilfe mei⸗ 
nes Arztes viell icht wiederhergestellt 
wirst —“ 
„Rein, nein!“ unterbrach ihn der 
Kranke mit sichtlicher Anstrengung. 
„Es ist zu spät! Laß mich hier; 
es wird bald vorvei sein!“ 
„Wünschest du deine Tochter noch 
einmal zu sehen?“ fragte Sir Sylvan, 
der selbst sah, daß der Kranke recht 
hatte. „Soll ich sie zu dir führen?“ 
„Nein! Ich möch'!e nicht, daß meine 
Tochter erfährt, daß ich hier gestorben 
bin; suche es ihr zu verheimlichen. Ich 
bin beruhigt, da ich sie jetzt wenigstens 
versorgt weiß.“ 
„Hast du sonst noch einen Wunsch?“ 
tragte Sir Sylvan sanft. 
„Nur den, daß mein Vermächtnis 
dir zur Freude gereiche und daß Gott 
deine Liebe und Freundschaft reich 
dergeltenmöge!“ 
Er schloß die Augen. Die letzten Worte 
waren so schwach gesprochen, daß Sir Sylvan 
es für das beste hielt, den Kranken jetzt allein 
zu lassen. Er erfaßte seine Hand und flüsterte 
ihm, indem er sich über ihn beugte, ins Ohr: 
„Ich werde am Nachmittag wiederkommen 
ind hoffe, dich dann besser zu finden.“ 
Sherwin erwiderte leise den Druck selnei 
Hand, richtete noch einen dankbaren Bück auf 
den Freund und schloß dann die Augen wieder 
Es war für immer. (Fortsetzung folat. 
6 66 66gÊs 
Das neue Jahr. 
Das neugeborne Kindelein, 
Das herzensliebe Jesulein. 
Bringt abermals ein neues Jahr 
Der auserwählten Christenschar. 
Des freuen sich die Engelein. 
Die sigte um und bei uns sein; 
Sie singen in den Lüften frei, 
Daß Gott mit uns versöhnet sei. 
Es bringt das rechte Jubeljahr. 
Was trauern wir denn immerdar? 
Frisch auf. es ist jetzt Singens Zeit, 
Das Jesulein wend'i alles Leid! 
Rolksout. 1600
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.