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Hoffnungen. Ohnmächtig ringt man die Hände
auf diesem kleinen Kampfplatz.
Es war ein prächtiger Aprilmorgen, wo
alles das Leben und den Lenz besang. Die
schimmernden Knospen an den Baumzweigen
des Weges öffneten zur Hälfte ihre grünen
LZeibchen, und die liebe Sonne kam, den kleinen
Kranken auf seinem Lager zu küssen.
„Zu solcher Zeit stirbt man nicht,“ rief die
Mutter aus, durch den Arzt etwas ermuntert,
und warf sich vor der Wiege auf die Knie
aieder.
Da wollte auch er beten, ohne eigentlich zu
vissen, was er sagen sollte. Ein vollendeter,
aber an allem zweiselnder Weltmann ist er seit
einem sechzehnten Lebensjahr ungläubig. Und
doch gibt es Zeiten, wo das Gebet so gut ist,
daß selbst der vollständig Ungläubige es mit
Reid betrachtet. — Als er nun seine Frau
in ihrem unermeßlichen Schmerz so mit
Gott reden hörte, schloß er sich ihr fast
instinktmähßig an. „Wenn zwei oder drei
in meinem Namen den Vater bitten
verden, so wird es ihnen gegeben“, hat
Christus gesprochen. Und vor dem kleinen
elfenbeinernen Kreuz kniend, das sich wie
zum Schutz über die Wiege he abbeugte,
flehten beide Eltern veeint: „Mein Gott,
wenn es möglich ist, laß diesen Kelch
an uns vorübergehen!“
In diesem Augenblicke fühlte der Vater
das Bedürfnis, dem lieben Gott ein Ver—
sprechen zu machen, sich irgendeine Sache
aufzuerlegen.
„Wenn mein Kind wieder gesund wird,
o verspreche ich dir ...“ Und er suchte
nach etwas, was er wohl versprechen
könnte ... irgendeine schwere Sache, die
ein Widerruf, ein Ersatz für die sündhafte
Gleichçültigkeit seiner ganzen Vergangen—
heit sein könnte. Da rief er mit erhobener
Stimme: „Frau, wenn mein Sohn wieder
zesund wird, sollst du die Freude an mir
erleben ... ich werde ... ja, von diesem
Jahre an werde ich meine Ostern wieder
qalten!“
Am folgenden Tage trat der Arzt, über
den Tod des Kleinen fast sicher, beim
Hausmeister ein, bevor er die Treppe
hdinanstieg.
„Nun ...?“
„Die Nacht ist gut gewesen. Das
Zimmermädchen sagte sogar, als es diesen
Morgen die Milch holte, daß es dem Kinde
vdiel besser gehe.“
„Nicht möglich!“
„Auch im ganzen Haus will niemand daran
ANauben.“
„Das kann ich mir denken ...“
Und doch war es Wirklichkeit. Schon zehn
Tage später, an einem schönen Frühlingstag,
konnte man in den Anlagen einen schwächlichen
Knaben bemerken, ganz blaß, aber mit großen
»lauen, sehr lebhaften Augen, die das Licht
zu trinken und dem Lenz zuzulächeln schienen.
Der Vater begleilete ihn, noch ganz verstört
yon der Angst der letzten Wochen, einer Angst
zum Verrücktwerden ... Ja, halb verrückt war
er wohl, als er damals in seiner Angst sein
Gelübde machte. Dieses unsinnige Gelöbnis!
O diese Kinder ... Was tut man nicht alles
hretwegen!
„Nach der Schicht“
Doch das Schreckbild war vorbei: jetzt konnte
die Vernunft wieder zur Sprache kommen.
Die folgenden Tage brachte der Vater damit
zu, sein Gelöbnis zu untersuchen.
Wie, er kommunizieren gehen? Er, ein hoch—
zebildete Mann? Ein Mann in Staats—
ziensten? Ein Professor der Hochschule? Ach,
zeh mir doch, ein solches Versprechen ist nicht
gültig! — Jerner: Ein Gelübde verpflichtet
iur unter der Bedingung, daß es frei und
zalten Blutes gemacht ist. Damals, bei der
Todesangst meines Sohnes, war ich von Sin—
jen, das ist klar, ich war völlig von Sinnen,
zanz verrückt Demgemäß zählt auch alles
jas nicht, was ich in diesem näreischen Zustande
zersprochen habe. Das ist mit vollem Recht
tull und nichtig. — Nur um seinen guten
Willen zu zeigen. dachte er, wolle er etwas tun,
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Fin FindlinazSvoet im Gevicht von 1500 Zentnrern
Ver kann ihn wegtragen? Ein riesiger Findlingsblock
m Gewicht von 1300 bis 1500 Zentnern ist in einer Erd—
rube bei Brandenburg a. H. entdeckt worden. Er soll
ils Denkmal am SEñdufer des Gördensees aufgestellt
verden. Der kolossale Granitblock läßt die charakteristischen
Zeichen des Gletschertransportes, Schliff-Flächen und
Schrammen deutlich erkennen
vbwohl er nicht strenge dazu verpflichtet sei.
ber was konnte er wohl tun? Almosengeben?
Almosengeben ist immer gut und dasselbe würde
vorteilhaft die Ostern ersetzen ...
Von diesem Tage an waren alle Bettler,
ie er in den benachbarten Straßen traf, glück—
iche Leute: laute, blanke Geldstücke fielen in
hre stets offenen Hände. Am Palmsonntag
ezahlte der Professor seine Palme mit einem
zehnfrankenstück, eine Zeitung mit zehn Sous,
ind die Laufburschen hatten vierzehn Tage lano
Trinkgelder, wie sie solche nie geträumt.
Und trotzdem, in der letzten Woche der Oster⸗
zeit nahm ihn eine sonderbate Unruhe vollstän⸗
zig gefangen: er hatte seine Ostern nun einmal
zersprochen ... Vielleicht muß er es halten ...
Vem versprochen? ... Gott? ... Er glaubt
etzt nicht mehr an ihn! Aber er müßte sich
venigstens in einem Beichtstuhl niederknien,
inen Akt auten Willens erwechkhen .. dem
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Priester die Verantwortung überlassen, ihn auf
einem Wege qufzuhalten ... Aber dann: er
n der Kirche auf den Knien? ... Inmitten der
Volksmenge? ... Was würden die Frauen
einer Kollegen denken? ... Aber nein, mit
32 Jahren!
Trotz allem kam er am Morgen des letzten
Zonntags, von Unruhe getrieben, gefoltert von
Inentschlossenheit, noch nüchtern zur Kirche...
Wer weiß ... Die gewinnende Gestalt eines
Heistlichen? ... Eine leere Se tenkapelle? Da
zönnte er es vielleicht doch wagen!
Aber plötzlich und mit Ungestüm erfaßt ihn
in der Mitte des Kirchenschiffes eine letzte Em—
pörung, der letzte Anfall von Feigheit: nein,
ꝛs ist unmöglich ...! Das wäre doch zu
drollig ... Man würde sich ja über ihn
lustig machen! Dann machte er Kehrt und
geht aus der Kirche hinaus. Und um mit
einem Schlag die Sache zu beendigen,
iritt er in einen Konditorladen, nimmt
—T geradewohl ein Stück Kuchen,
welches er hastig verzehrt. Auf diese
Weise ist er nicht mehr nüchtern, und so
ist die tödliche Unentschlossenheit ein für
allemal beseitigt.
Während er sich die Hände abwischt
und die Vorübergehenden mustert, sieht
er seinen Hans, den hübschen blonden
Tleinen an der Hand seiner Erzieherin
iuf sich zukommen. Das Kind erblickt
hn, winkt ihm freudig zu und ruft:
„Papa! Guter Papa! ... Er ißt ...“
Er vollendete den Satz nicht: das
luto-Fuhrwe sk eines Milchhändlers kam
n schnellster Fahrt von einer Seitengasse
der und ging über das Kind hinweg...
Bevor der arme Kleine Zeit hatte eine
Bewegung zu machen, war ihm durch
»ie Räder die Brust eingedrückt ...
Der Wagen aber entfernte sich rasselnd
ind rücksichtslos wie der Sturmwind
rjach dem Bahnhof, um dem Auflauf zu
utgehen, welcher sich bereits um den blu—
igen, zuckenden Körper zu bilden begann.
Der Vater bewegte sich nicht von der
Ztelle. Er war von Entsetzen wie ge—
ähmt. Einige Freunde aus dem betref⸗
enden Viertel sahen ihn und boten sich
an ihn heim zu begleiten; aber man
mußte Gewalt anwenden, ihn nach seiner
Wohnung zu bringen.
Monate sind vergangen. Aber noch ist er
jalb wie ein Irrsinniger. Ja, man hält ihn
illgemein für verrückt, denn jeden Augenblick
yjält er mitten in der Unterhaltung inne, und
ndem er seine Umgebung mit stieren Augen
inblickt, wiederholt er stets die Worte: „Mein
dind hab' ich umgebracht ...!“
Und wenn man es ihm ausreden will: „Sie
vissen doch, daß es ein Milchwagen war!“
hann gibt er immer wieder zur Antwort:
„Ich sage Ihnen, daß ich es war! Ich
veiß es besser als Sie.“
Auch seine Frau versteht ihn nicht. Er aber
veiß nur zu gut. warum sein Kind sterben
nußte
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Der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag,
Ein letztes Glück und einen letzten Tag.
Noch ist es Tag, da rühre sieh der Mann!
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