Full text: Nach der Schicht (24)

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Hoffnungen. Ohnmächtig ringt man die Hände 
auf diesem kleinen Kampfplatz. 
Es war ein prächtiger Aprilmorgen, wo 
alles das Leben und den Lenz besang. Die 
schimmernden Knospen an den Baumzweigen 
des Weges öffneten zur Hälfte ihre grünen 
LZeibchen, und die liebe Sonne kam, den kleinen 
Kranken auf seinem Lager zu küssen. 
„Zu solcher Zeit stirbt man nicht,“ rief die 
Mutter aus, durch den Arzt etwas ermuntert, 
und warf sich vor der Wiege auf die Knie 
aieder. 
Da wollte auch er beten, ohne eigentlich zu 
vissen, was er sagen sollte. Ein vollendeter, 
aber an allem zweiselnder Weltmann ist er seit 
einem sechzehnten Lebensjahr ungläubig. Und 
doch gibt es Zeiten, wo das Gebet so gut ist, 
daß selbst der vollständig Ungläubige es mit 
Reid betrachtet. — Als er nun seine Frau 
in ihrem unermeßlichen Schmerz so mit 
Gott reden hörte, schloß er sich ihr fast 
instinktmähßig an. „Wenn zwei oder drei 
in meinem Namen den Vater bitten 
verden, so wird es ihnen gegeben“, hat 
Christus gesprochen. Und vor dem kleinen 
elfenbeinernen Kreuz kniend, das sich wie 
zum Schutz über die Wiege he abbeugte, 
flehten beide Eltern veeint: „Mein Gott, 
wenn es möglich ist, laß diesen Kelch 
an uns vorübergehen!“ 
In diesem Augenblicke fühlte der Vater 
das Bedürfnis, dem lieben Gott ein Ver— 
sprechen zu machen, sich irgendeine Sache 
aufzuerlegen. 
„Wenn mein Kind wieder gesund wird, 
o verspreche ich dir ...“ Und er suchte 
nach etwas, was er wohl versprechen 
könnte ... irgendeine schwere Sache, die 
ein Widerruf, ein Ersatz für die sündhafte 
Gleichçültigkeit seiner ganzen Vergangen— 
heit sein könnte. Da rief er mit erhobener 
Stimme: „Frau, wenn mein Sohn wieder 
zesund wird, sollst du die Freude an mir 
erleben ... ich werde ... ja, von diesem 
Jahre an werde ich meine Ostern wieder 
qalten!“ 
Am folgenden Tage trat der Arzt, über 
den Tod des Kleinen fast sicher, beim 
Hausmeister ein, bevor er die Treppe 
hdinanstieg. 
„Nun ...?“ 
„Die Nacht ist gut gewesen. Das 
Zimmermädchen sagte sogar, als es diesen 
Morgen die Milch holte, daß es dem Kinde 
vdiel besser gehe.“ 
„Nicht möglich!“ 
„Auch im ganzen Haus will niemand daran 
ANauben.“ 
„Das kann ich mir denken ...“ 
Und doch war es Wirklichkeit. Schon zehn 
Tage später, an einem schönen Frühlingstag, 
konnte man in den Anlagen einen schwächlichen 
Knaben bemerken, ganz blaß, aber mit großen 
»lauen, sehr lebhaften Augen, die das Licht 
zu trinken und dem Lenz zuzulächeln schienen. 
Der Vater begleilete ihn, noch ganz verstört 
yon der Angst der letzten Wochen, einer Angst 
zum Verrücktwerden ... Ja, halb verrückt war 
er wohl, als er damals in seiner Angst sein 
Gelübde machte. Dieses unsinnige Gelöbnis! 
O diese Kinder ... Was tut man nicht alles 
hretwegen! 
„Nach der Schicht“ 
Doch das Schreckbild war vorbei: jetzt konnte 
die Vernunft wieder zur Sprache kommen. 
Die folgenden Tage brachte der Vater damit 
zu, sein Gelöbnis zu untersuchen. 
Wie, er kommunizieren gehen? Er, ein hoch— 
zebildete Mann? Ein Mann in Staats— 
ziensten? Ein Professor der Hochschule? Ach, 
zeh mir doch, ein solches Versprechen ist nicht 
gültig! — Jerner: Ein Gelübde verpflichtet 
iur unter der Bedingung, daß es frei und 
zalten Blutes gemacht ist. Damals, bei der 
Todesangst meines Sohnes, war ich von Sin— 
jen, das ist klar, ich war völlig von Sinnen, 
zanz verrückt Demgemäß zählt auch alles 
jas nicht, was ich in diesem näreischen Zustande 
zersprochen habe. Das ist mit vollem Recht 
tull und nichtig. — Nur um seinen guten 
Willen zu zeigen. dachte er, wolle er etwas tun, 
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Fin FindlinazSvoet im Gevicht von 1500 Zentnrern 
Ver kann ihn wegtragen? Ein riesiger Findlingsblock 
m Gewicht von 1300 bis 1500 Zentnern ist in einer Erd— 
rube bei Brandenburg a. H. entdeckt worden. Er soll 
ils Denkmal am SEñdufer des Gördensees aufgestellt 
verden. Der kolossale Granitblock läßt die charakteristischen 
Zeichen des Gletschertransportes, Schliff-Flächen und 
Schrammen deutlich erkennen 
vbwohl er nicht strenge dazu verpflichtet sei. 
ber was konnte er wohl tun? Almosengeben? 
Almosengeben ist immer gut und dasselbe würde 
vorteilhaft die Ostern ersetzen ... 
Von diesem Tage an waren alle Bettler, 
ie er in den benachbarten Straßen traf, glück— 
iche Leute: laute, blanke Geldstücke fielen in 
hre stets offenen Hände. Am Palmsonntag 
ezahlte der Professor seine Palme mit einem 
zehnfrankenstück, eine Zeitung mit zehn Sous, 
ind die Laufburschen hatten vierzehn Tage lano 
Trinkgelder, wie sie solche nie geträumt. 
Und trotzdem, in der letzten Woche der Oster⸗ 
zeit nahm ihn eine sonderbate Unruhe vollstän⸗ 
zig gefangen: er hatte seine Ostern nun einmal 
zersprochen ... Vielleicht muß er es halten ... 
Vem versprochen? ... Gott? ... Er glaubt 
etzt nicht mehr an ihn! Aber er müßte sich 
venigstens in einem Beichtstuhl niederknien, 
inen Akt auten Willens erwechkhen .. dem 
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Priester die Verantwortung überlassen, ihn auf 
einem Wege qufzuhalten ... Aber dann: er 
n der Kirche auf den Knien? ... Inmitten der 
Volksmenge? ... Was würden die Frauen 
einer Kollegen denken? ... Aber nein, mit 
32 Jahren! 
Trotz allem kam er am Morgen des letzten 
Zonntags, von Unruhe getrieben, gefoltert von 
Inentschlossenheit, noch nüchtern zur Kirche... 
Wer weiß ... Die gewinnende Gestalt eines 
Heistlichen? ... Eine leere Se tenkapelle? Da 
zönnte er es vielleicht doch wagen! 
Aber plötzlich und mit Ungestüm erfaßt ihn 
in der Mitte des Kirchenschiffes eine letzte Em— 
pörung, der letzte Anfall von Feigheit: nein, 
ꝛs ist unmöglich ...! Das wäre doch zu 
drollig ... Man würde sich ja über ihn 
lustig machen! Dann machte er Kehrt und 
geht aus der Kirche hinaus. Und um mit 
einem Schlag die Sache zu beendigen, 
iritt er in einen Konditorladen, nimmt 
—T geradewohl ein Stück Kuchen, 
welches er hastig verzehrt. Auf diese 
Weise ist er nicht mehr nüchtern, und so 
ist die tödliche Unentschlossenheit ein für 
allemal beseitigt. 
Während er sich die Hände abwischt 
und die Vorübergehenden mustert, sieht 
er seinen Hans, den hübschen blonden 
Tleinen an der Hand seiner Erzieherin 
iuf sich zukommen. Das Kind erblickt 
hn, winkt ihm freudig zu und ruft: 
„Papa! Guter Papa! ... Er ißt ...“ 
Er vollendete den Satz nicht: das 
luto-Fuhrwe sk eines Milchhändlers kam 
n schnellster Fahrt von einer Seitengasse 
der und ging über das Kind hinweg... 
Bevor der arme Kleine Zeit hatte eine 
Bewegung zu machen, war ihm durch 
»ie Räder die Brust eingedrückt ... 
Der Wagen aber entfernte sich rasselnd 
ind rücksichtslos wie der Sturmwind 
rjach dem Bahnhof, um dem Auflauf zu 
utgehen, welcher sich bereits um den blu— 
igen, zuckenden Körper zu bilden begann. 
Der Vater bewegte sich nicht von der 
Ztelle. Er war von Entsetzen wie ge— 
ähmt. Einige Freunde aus dem betref⸗ 
enden Viertel sahen ihn und boten sich 
an ihn heim zu begleiten; aber man 
mußte Gewalt anwenden, ihn nach seiner 
Wohnung zu bringen. 
Monate sind vergangen. Aber noch ist er 
jalb wie ein Irrsinniger. Ja, man hält ihn 
illgemein für verrückt, denn jeden Augenblick 
yjält er mitten in der Unterhaltung inne, und 
ndem er seine Umgebung mit stieren Augen 
inblickt, wiederholt er stets die Worte: „Mein 
dind hab' ich umgebracht ...!“ 
Und wenn man es ihm ausreden will: „Sie 
vissen doch, daß es ein Milchwagen war!“ 
hann gibt er immer wieder zur Antwort: 
„Ich sage Ihnen, daß ich es war! Ich 
veiß es besser als Sie.“ 
Auch seine Frau versteht ihn nicht. Er aber 
veiß nur zu gut. warum sein Kind sterben 
nußte 
—— ——y 
Der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag, 
Ein letztes Glück und einen letzten Tag. 
Noch ist es Tag, da rühre sieh der Mann! 
—
	        
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