sich mithin darum, an diese Neigungen anzuknüpfen, aber
ihre Ueberspannung zu verhindern. Aus diesem Grunde
empfehlen sich gemeinsame Lesebücher für beide Geschlechter,
in denen aber mehr als bisher der Eigenart der Mädchen—
seele und den besonderen Zielen der Mädchenerziehung Rech—
nung getragen wird. Bei der Auswahl der Klassenlektüre
können die Forderungen der Mädchenerziehung noch mehr
beachtet werden. Während in den Knabenschulen von den
Heldensagen, die Nibelungen- oder die Dietrichsage, von den
deutschen Volksbüchern die vier Haymonskinder oder der
Eulenspiegel, von realistischen Erzählungen der Robinson
oder das edle Blut von Wildenbruch bevorzugt werden.
dürften sich die Mädchenklassen mehr die Gudrunsage oder
die Volksbücher Genovefa, Hirlanda, Griseldis oder Erzäh—
lungen, wie Gotthelfs Erdbeeri Mareili, Stifters Berg—
kristall, Storms Pole Poppenspäler, eignen.
Erfahrungsgemäß wird bei den Kindern des Bürgerschul—
alters vielfach eine ausgesprochene Vorliebe für geschichtliche
Erzählungen beobachtet. Das Kulturleben der Vergangen—
heit mit seinen einfacheren und doch lebhaft bewegten Ver—
hältnissen ermöglicht es dem Dichter, leichter erfaßbare Ge—
stalten zu schildern und fesselnde Menschenschicksale zu er—
zählen, die der Innenwelt der Kinder näher kommen als die
vielfach so verwickelten Verhältnisse der Gegenwart. Wenn
solche Erzählungen im Deutschunterricht gelesen werden, so
erhalten die Kinder nicht nur einen sehr geeigneten Lese—
stoff, sondern es wird auch dem Geschichtsunterricht ein
wertvoller Dienst geleistet, insofern ihm lebensvolle Bilder
mit bemerkenswerten Zügen aus der Vergangenheit geboten
werden. Auch der Ballade und der balladesken Sage kommt
infolge ihres heldischen Ethos und ihrer schlagkräftigen Form
die Neigung der Kinder stark entgegen. Die geschichtliche
Ballade, die aus dem alten Heldenlied erwachsen ist und
im wesentlichen epischen oder episch-dramatischen Charakter
hat, steht dem Erleben des Kindes näher als die zur Lorik
neigende Naturballade. Unter den Dichtungsgattungen in
gebundener Rede verdienen sie einen bevorzugten Platz im
Lesebuche.
Die lyrische Dichtung als die Gestaltung persönlichster
Gefühlserlebnisse erschließt sich der Jugend erfahrungs—
gemäß am spätesten, in ihrem ganzen Zauber in und nach
den Reifungsjahren. Dennoch ift es wohl möglich, den
Schülern der oberen Jahrgänge wenigstens ein ahnendes
Verständnis lyrischer Gedichte zu vermitteln. Die Auswahl
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