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Frömmigkeit besteht neben verschwommenen Reli—
gionsbegriffen, deutscher Adelsstolz neben Fran—
zosenmanie. Aber diese so sehr tadelnswerten
Gegensätze, die bei Warianne allerdings durch
jungfräuliche Gemütstiefe und sittliche Geradheit
gemildert werden, sind nicht Alleinfehler der Dal—
berge, sondern Gemeinfehler der Zeit und konnten
in den Augen von Franz Karl keine Abschreckung
sein. Denn er war ja auch ein Kind seiner Zeit,
ein Ergebnis der modischen Erziehung und franzö—
sischen Umgebung gleich seiner Braut. Diese aber
war als Zweitgeborene am 21. Oktober 1745 in
ihre Familie eingetreten, am 21. Oktober 1745 in
eben den Tagen also, da Franz von Toskana zum
Kaiser gewählt worden und dessen Gemahlin Maria
Theresia preußische Gewaltgeographie in Schlesien
treiben sah. Am 21. Oktober 1745! Ja, da gährte
nicht bloß wie alle Jahre der Neue in Kellern und
Köpfen, da rumorte auch l'esprit français, franzö⸗
sischer Sinn, unter den dickwollenen Perrücken.
Der Geist der Aufklärung ging um, der Geist
Ludwigs XIV. und XV.; die leichtfertigen Sitten,
die Verschwendungssucht des Versailler Hofes,
die Erziehungslehre Vousseaus durchseuchten
wie Pestpilze die Luft. Sich dagegen abzu—
schließen war für Hof⸗ und Adelsfamilien ganz
undenkbar. Der neue „gute Ton“ zog durch die
unvermeidlichen mastres und bonnes“*), durch die
9 Lehrer und Erzieherinnen.