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entfaltet hat !). Dazu drängte ein militärfreudiger Patriotismus,
eine ungewöhnlich aktive Religiosität mit notorischer Opfer-
willigkeit, geschärft durch die Kulturkampferinnerungen bei
den Katholiken [73,79 % der Gesamtbelegschaft ist katholisch]
und bei beiden Konfessionen nicht zuletzt auch durch die
Wahlkämpfe. Vor allem aber herrscht eine Abart des rhein-
{ändischen Sinnes für gesellige Vereine aller Art. Man mag
über dieses Vereinswesen mit seinen vielen Veranstaltungen
berechtigte Klagen haben, sicherlich bringen ihm sehr viele
Arbeiter gerne die Geldopfer nicht bloß aus Vergnügungssucht,
sondern auch deshalb, weil es ihnen eine Gelegenheit bietet,
sich in einem gewissen Grade bürgerlich-gesellschaftlich
zur Geltung zu bringen und Anlagen des Geistes und Charakters
zu verwerten.
So wollte ich nur andeuten, was später Gegenstand ein-
yehender Darlegung werden soll. Eine Arbeiterschaft von
lieser psychischen Verfassung wird nicht so leicht
außer Spannung gesetzt durch plötzlich gesteigerte
Lohnsätze, besonders wenn das Zugeständnis eines
hohen Gesamtlohnes damit verknüpft ist. Das aber war
der Fall in jenen Jahren der außergewöhnlichen Lohnsteige-
rung 1889/90 und 1891/92. Eine solche Arbeiterschaft mag
ihre Schwächen und Fehler haben, aber sie ist ganz gewiß
nicht in der Verfassung jenes Augsburger Textilarbeiters, den
Brentano in seiner ersten diesbezüglichen Studie erwähnt,
der einen Mehrlohn um den Preis einer Mehrleistung abge-
wiesen haben soll mit den Worten: „Mehr Lohn — mehr
Rausch!“
Für diese genannten Jahre, in denen die Löhne durch Ver-
besserung der Gedingsätze erhöht wurden und die Arbeits-
zeit bedeutend gekürzt wurde, stieß mir schließlich noch ein
auch psychologisch beachtenswerter Grund auf, warum man
für den Mangel an sofortiger Mehrleistung — nicht so-
gleich einen Mangel an Leistungswilligkeit annehmen darf,
Müller selbst sagt uns nämlich an einer anderen Stelle (S. 46),
*) Die Klagen bei Müller S. 76 sind nicht grundlos, Müller selbst will
3zie jedoch keineswegs verallyemeinern.