Full text: 1931 (0009)

„Die Auswärtigen.“ 
Aus den „Bildern aus dem Snarqgebiet"“. 
Von Liesbet Dill. 
Wir waren eine ganz beſondere Sorte und genoſſen den Ruf einer gewiſſen Frei- 
zügigkeit und hatten viele Vorteile den einheimiſchen Schulkindern gegenüber, um die 
man uns glühend beneidete. 
Wir konnten jeden Tag zweimal mit einem Zuge fahren, konnten zu ſpät kommen, 
ohne beſtraft zu werden und unſer Leben war voller Ereigniſſe, während ſich das der 
anderen nach dem Stundenplane vollzog. 
Im Winter kamen wir wegen Sc<neeverwehungen zu ſpät, im Sommer war es 
jihwieriger, ſein Alibi nachzuweiſen. Im April war einmal auf unſerer Strecke ein 
Güterzug auf der Fahrt über eine kleine Brücke verunglückt, von dieſem Zuſammen- 
bruch lebten wir den ganzen Sommer. Und wenn .der Lehrer uns mitten in der Stunde 
plötzlich auftauchen und über die Bank ſteigen ſah, und fragte, woher wir ſo ſpät kämen, 
ſagten wir gekränkt, aber das iſt doh wegen dem Zuſammenſtoß mit der Brücke, die 
erſt ausgebeſſert wird . . . Schon gut, ſez' Dich, hieß es dann. Im allgemeinen traf 
unſer Ahtuhrzug des Morgens mit unheimlicher Pünktlichkeit ein. Es gab unter den 
Schülern einige, die es ſeit zehn Jahren noch nie fertig gebra<ht hatten, einen Zug zu 
verſäumen, anderen paſſierte es jede Woche, und gewiſſe Sekundaner ſetzten ihre langen 
Beine erſt in raſchere Bewegung, wenn ſc<on 'die Signalſcheibe gezogen war. 
Zwei Jahre lang war ich unter vierzig mitfahrenden Schülern das einzig weibliche 
Weſen. Bekleidet mit einem grauen Mantel und einer kirſchroten Tellermüße mit 
Pompom, fand ich mich morgens um ſieben Uhr auf dem Bahnhof ein, der letzten Station 
vor der Stadt. 
Zwei Jahre lang habe ich den Spott über dieſe rote Müße ertragen, „Stations- 
vorſteher“, riefen ſie mir nach. Sie war leider ſo ſolide, daß alles, was ich mit ihr 
anſtellte, nichts an ihrer Form noh Farbe änderte. Sie ſank ſelbſt im Weiher nicht 
unter, ſie wurde naß und wieder trocken. 
Wenn ich zur Klavierſtunde ging mit meiner ſchwarzen Mappe, auf der in goldenen 
Lettern „Muſik“ ſtand, riefen ſie ſchon von weitem, ah da kommt die Muſſik! Im 
Winter bewarfen ſie mich mit Schneeballen von allen Größen und die feſteſten bekam 
ich von einem frechen Tertianer, der mich in ſeinem ſchwarzen Flügelmantel unter 'der 
Bahnunterführung abfaßte und mich dann unbarmherzig bepfefferte. In manche ballte 
er ſogar Steine. Zum Glück hielt die Müße etwas ab. Im Frühjahr ſchoſſen ſie mit 
Glickern nah mir auf Schleudern, und 'die Müße bildete ein treffliches Ziel. Manchmal 
brachen ſie lärmend in mein Frauenabteil, in dem ich alleine ſaß, und nahmen von 
dem ganzen Abteil Beſitz, bis ſie der Schaffner verſcheuhte. „Jhr ſin doch kei Fraue!“ ... 
„Das da aa nit“, ſagten ſie auf mich zeigend. Als ſich ſpäter noh einige Mädchen hinzu- 
geſellten, wurde es beſſer. Da die Schüler die Züge überfüllten, hatten ſich die anderen 
Leute ſo lange beſchwert, bis die Eiſenbahndirektion einen 'Schülerzug einlegte; er ging 
zehn Minuten vor dem Perſonenzug ab. Und es geſchah nun täglich, daß, ſobald ſich 
unſer Zug in Bewegung ſette, die Fahrgäſte des Nachzuges gerade aus den unterirdiſchen 
Gängen auftauchten und den enteilenden Zug erblickten, von deſſen Daſein ſie nichts 
wußten. Sie begannen hinterher zu laufen, „halle doch, ih muß ja noch mit“, und ließen 
ſich weder von den Schaffnern noFg dem Stationsvorſteher überzeugen, daß ihr Zug ja 
zehn Minuten ſpäter fuhr, ſie ſtiegen auf die Trittbretter, klammerten ſich an die Türen, 
angeeifert von uns: „Snell, ſchnell, Ihr komme noch mit.“ 
Dann hatten wir herausgefunden, daß es die Schaffner ärgerte, wenn wir in den 
Vorzug einſtiegen und im letzten Augenblick wieder ausſtiegen, um den Perſonenzug 
zu benußen. „Mir han uns verſpät,“ beruhigten die Buben die Beamten. Nach einem 
Jahr wurde der Vorzug wieder aufgehoben. Im Herbſt, wenn es kalt wurde, froren 
wir ſehr in den kalten Abteilen und wir forderten durch angeſtekte Zettel die Direktion 
auf, gefälligſt zu heizen, „wir erfrieren“ . . . aber das half nichts, vor dem 1. Oktober 
wurden keine Kohlen eingelegt, und wenn wir im März vor Hiße zu evſtiken drohten, 
das rührte die Direktion nicht, ſie heizte bis zum 1. April.
	        
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