Saarkalender für das Jahr 1928
Profeſſor v. V. war übrigens auch der einzige Lehrer, der sich damals jeden Monlag
Morgen angelegentlichſt erkundigte, wer etwa am Sonntag die Kirche nicht beſucht habe.
Selbst der fromme Direktor und unser Religionslehrer stellten solche Gewissensfrage nicht.
Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, herrſchte im allgemeinen ein einigermaßen
liberaler Geiſt im Gymnasialleben, wenn auch dieſe oder jene Lehrmethode heutzutage als
„verknöchert“ eine Aenderung erfuhr. „Auswendig gelernt“ wurde eine ganze Menge,
wobei beſonders die bei Prof. v. V. und seinem direkten Nachfolger, Prof. W. beliebte, bei
uns Schülern verhaßte Art des Auswendiglernens der lateiniſchen und griechiſchen Gram-
matik erwähnt sei. So anderthalb bis zwei Seiten Grammatikregeln, die in ihren ein-
zelnen Paragraphen keinen organiſchen Zuſammenhang aufwieſen, mußten hinterein-
ander, zwar nicht wortgetreu — das hätte gerade noch gefehlt! – aber doch ohne Ueber-
gehen der geringſten Regel oder deren Ausnahmen heruntergeſagt werden. Jeder im
„Aufsagen“ folgende Schüler mußte vollständig und geiſtesgegenwärtig „im Bilde sein“,
„wie's weiter ging“. Wehe dem, der da stutzte oder „außer der Reihe“ eine Regel hätte
herbeten wollen! ,„Setz' dicht Wieder nicht ordentlich gelernt! Komm zum Nachsitzen dann
und dann“ = erſcholl es vom Katheder, wenn nicht gar ein „Tadel im Klassenbuch“ die
Folge dieses harmloſen Gedächtnismangels oder der Angst war. Solche öde, geiſtloſe
Methoden sind jetzt längſt mit Recht ausgemergt.
Von deutschen Gedichten, Kirchenliedern, lateiniſchen und griechischen Dichtungen, ja
ganzen Kapiteln Cäſars „de bello Gallico“ wurde eine ganze, übertriebene Menge memo-
riert. In Sexta hatten wir „bloß“ 10 Stunden Latein wöchentlich, an mehreren Tagen
wei Stunden. Die unangenehme Arbeit des Auswendiglernens der „Ableitung der
tempora“ gegen Ende des Sextanerjahres kostete manche Tracht Prügel. „Das Aulé“ (Dr.
Krohns Beiname) hatten wir in Sexta, Quinta und Quarta ols Ordinarius in Latein,
Deutſch und Geographie. So glücklich wir uns prieſen, nicht den geſtrengen Professor v. V
ols Ordinarius in dieſen Klaſſen ſchon zu haben, so mußten wir doch manche kräftige
Rohrſtocskanonade auf den geehrten Körperteil, auch höchſt gemetne, rückjichtslos, kräfrige
Schläge mit dem Rohrstock auf die unter Zittern und Zagen dargereichten Hände seitens
Aulés entgegennehmen. Sogar in Untertertia wurde roher und sicher ſchon damals ver-
botener Weise, freilich in ganz vereinzelten Fällen, noch mit dem Stock geprügelt oder
doch zu prügeln verſucht. Ich ſelbſt erhielt als Sextaner im Alter von 11 Jahren die
letzten Stockſchläge. Ich perſönlich und recht viele meiner Kameraden hätten's als
Tertianer keinem, aber auch gar keinem, wie immer bewürdeten Lehrer raten mögen, mich
zu prügeln. Wir würden, das ſteht außer Frage, im äußersten Nolfall wieder tätlich ge-
worden sein. ohne jede Rücksicht auf die Folgen für uns ſselbſt oder für den beklagens-
werten Prügel-Pädagogen, auch deſſen etwaiges Reſserve-Offizierstum einbegriffen. Einmal
kam in Quarta der Fall vor, daß Stockprügel seitens eines Pädagogen aus der Waſser-
Polakei durch den vedrohten, bereits vierzehnjährigen Mitſchüler tätlich abgewehrt wur-
den. Der betreffende Schüler mußte natürlich die Anſtalt verlassen, beſuchte später nach
Beendigung seiner Lehrzeit eine Brauer-Akademie und hat, glaub’ ich, als wohlhabender,
geachterer Bürger es noch keine Minute seines Lebens bereut, daß er damals dem kleinen, :
allzu verwegenen Wasserpolaken den Rohrſtock entriß und in weitem Bogen hinter den
Klassenſchrank warf. Auf das Verabfolgen etlicher Fauſtſchläge wäre es 1in weiterem
Notfall dem beherzlen, äußerſt ſtarken Milſchüler beſtimmt auch nicht im mindesten an-
gekommen. Der Herr Pädagoge verließ unsere Lehrsſtätte natürlich bald darauf ebenſsails.
wahrſchemlich „verſetzt aus dienstlichen Gründen“. Einem auswärtigen Schüler der Unier-
tertia, als Jsraelit bereits mit 13 Jahren konfirmiert und somit vollgültiges Mitglied
ſeiner religiösen Gemeinde, sollten ~ ich war damals erſt Sextaner ~ Stockhiebe zuteil
werden, doch er ſagte seſt und drohend: „Schlagen laß i ch mich nicht mehr!“ Es konnte
1hm nichts geschehen.
Als aber einige Jahre später der bereits evangelisch konsirmierte Sohn einer an-
gesehenen St. Johanner Familie vom Ordinarius ebenfalls als Untertertianer Stockprügel
erhielt, knirſchten wir alle mit den Zähnen. Der so hochgradig unpädagogiſch Behandelte
jedoch, übrigens ein bei uns sehr geſchätzier Mitschüler, gab keinen Laut von ſich, ließ sich
vom Klassenlehrer sogar einige, sicher besonders ſchmerzhafte Hiebe über die Waden und
eine ganze Angahl über ven Rücken mit zuſammengebiſſenen Zähnen ohne Schmerzäuße-
rung gefallen und nahm lautlos seinen Platz wieder ein. Dabei handelte ſichs keres-
wegs um ein Roheits- und Frechheitsvergehen bei unserem Mitschüler, sondern um
irgend eine Unaufmerkſamkeits- oder Trägheits-Lappalie, die mit Nachsitzen oder einem
Klaſſenvuchtadel ihre vollkommen ausreichende Sühne hätte finden können. Natürlich
SRB...