Full text: 1926 (0004)

Saarkalender für das Jahr 1926 
  
„O, Veilchen!“ sagte er, „darf ich ein wenig daran riechen, Fräulein ?" 
Das Mädchen lächelte und hob den Korb. 
„Ich ~ ich danke Ihnen,“ sagte Onkel Clemens, und das Mädchen ging zögernd weiter. 
„Weißt du,“ sagte er zu Vater, „bei uns in Amerika sind die Veilchen ſchon auch so schön, 
aber sie riechen nicht ~ nein, nein, das ist keine poetiſche Beſchreibung, ihr könnt jeden Bo- 
taniker fragen, sie riechen wirklich nicht.“ 
Jetzt machte die Ziehharmonika drüben ein paar ſchüchterne Töne. 
„Nicht zu laut, Jupp“, flüsterte ſein Nachbar, ,„ſonst schreibt dich der Bahnpolizist auf 
wegen Ruhestörung." ; 
Die schüchternen Töne der Harmonika wurden noch ſchwächer. Dafür setzte aber eine tiefe, 
knorrige Stimme gedämpft ein : 
Dort, wo der Märker reckt das Eiſen, 
Da hat die Mutter mich gewiegt . . . 
„Das Westfalenlied, Clemens,“ sagte Vater halblaut. Onkel Clemens sagte nichts. Er 
nickte nur. 
Hoch überm Fels die Tannen ſtehn, 
Im kühlen Tal die Herden gehn . . . 
Onkel Clemens war aufgestanden. Seine große Bruſt ſchien zu arbeiten. Er ſchaute uns 
unsicher an: „Bei uns in Amerika kennt man dieſe langen, wiegenden Töne nicht, da geht 
alles nach dem Yankee Doodle,“ sagte er geſchwind und schaute zu den Bergleuten hinüber. 
Etwas voller kam es von dort herüber. 
Und unſre Frauen, unſre Mädchen, 
Mit Augen blau, wie Himmelsgrund, 
Sie spinnen nicht die Liebesfädchen 
Zum Scherze für die müß'ge Stund . . . 
Da hielt es den Onkel Clemens nicht mehr länger. Ein paar Schritte war er gegen die 
Bergleute zugegangen. In der Mitte des kleinen Warteſaals stand er jetzt. Der kohlenflimt 
mernde Lichtsſtreif strich an ihm herunter. Die Arme hob er feierlich und wiederholte laut mi- 
einer Stimme, daß es dröhnte : 
Sie spinnen nicht die Liebesfädchen 
Zum Scherze für die müß'ge Stund . . . 
Die Bergleute lächelten nicht, ſondern ſahen ihn nur geradeaus an. Und zuversichtlicher 
begleitete das wehmütige Instrument. ; 
Jetzt war die Tür hinter Onkel Clemens Rücken aufgegangen. 
Der Bahnpoliziſt kam herein. Vater war ganz geschwind aufgestanden mit dem Geldbeutel 
in der Hand. Er machte dem Polizisten beſchwörende Zeichen. 
„Pst, ich zahle alles, alles ~ nur erst fertigsingen ~ fertigſingen laſſen + bitte ~ bitte.“ 
Unſschlüſsig stand der Poliziſt da. Das Fräulein am Schanktiſch nickte ihm begütigend zu. 
Das Mädchen mit dem Veilchenkörbchen tat desgleichen. 
Und nun erhob Onkel Clemens seine breite Stimme, so hoch er konnte: 
Dort ist's, wo meine Wiege ſtand, 
Gott grüße dich, Weſstfalenland! 
Und dann wiederholte er es nochmal: 
Dort ist's, wo meine Wiege stand, 
Gott grüße dich, Westfalenland! 
Und dann ein drittes Mal. Und jetzt kollerten ihm die hellen Tränen über das volle 
Gesicht und zeichneten zwei glänzende Linien von den Augen nach dem Mund. Zwei west- 
fäliſche Furchen, keine amerikanischen . . . 
  
  
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