Full text: 4.1926 (0004)

Saarkalender für das Jahr 1926 
Jeſſes, Jesſes, was sie Eile hatten, die Türen flogen, die Enkelinnen putzten sich vor dem Spiegel, 
Ihre Töchter warfen sich in den Sonntagsftaat, man trank den heißen Kaffee ftehend, um nur noch 
mitzukommen. 
Man hörte sie garnicht an. Es war der Groß nicht recht, daß sie hinrannten, sich das Schauſpiel 
anzuſehen, aber es war ihr auch nicht recht, daß die anderen etwas sahen, was sie nicht ſah, und 
deshalb wußte sie, weiß Gott nicht, wie es gekommen war, daß sie ſchlleßlich doch mit in der über- 
füllten Straßenbahn saß, auf dem Schoß ihrer Tochter zwischen Ihren Neffen, die ftanden und einem 
Briefboten, der es auch nicht erwarten konnte. 
„lch han kel Schärm, ich han mich noch nit angedohn!‘’ Das half nun alles nichts, sie war 
mitten drin, und um sie ſummte es wie in einem Bienenhaus. 
Als sie in der Stadt ankamen, wimmelten die Straßen schon von Menschen. „Was Minſche, 
was Minſchel‘“’ war Ihr erfter Eindruck. Man brauchte nicht auszufteigen, man wurde hinaus- 
gedrückt, heruntergeſschoben und weitergedrückt in dem schwarzen Strom, der die lange Bahnhof- 
ftraße füllte. 
Ach Gott, wie sah die Stadt aus! Sie hatte sie Jahrelang nicht mehr betreten und kannte sie 
nur von Sefttagen her, wenn die Straßen im bunten Sahnenschmuck prangten und alles feftlich 
blank aussah. Die Schaufenfter hatten ihre von Sliegerbomben geplatzten Scheiben wieder geflickt, 
und die Dächer waren ausgebessert, aber man sah ihnen ihre Wunden noch an, die hatten ftand- 
gehalten, vier Jahre lang, aber sie hatten Wunden davongetragen, man sah es ihnen an. Die 
Bürgerfteige, wie abgenutzt, und die alten Brücken, die verrußten grauen Sronten der Wohnhäuſfer, 
die kein Malpinsel mehr berührt, alles ſah grau. fremd, bunt und schmutzig aus, wie das Straßenbild. 
Da ertönte in der Serne ein Hupen, sie fuhr zuſammen. Noch aus den Tagen der täglichen 
Slliegerüberfälle her hatte sie den Ton im Ohr; das Geheul der Sirenen, das warnte, und mit dem 
faft gleichzeitig die erften Bomben fielen. 
Aber es waren nur die Autos, die vom Bahnhof her In die Bahnhofftraße einbogen. Das waren 
. sie! Alles reckte die Köpfe, man ftleg auf die Treppen der Läden, die Senfter flogen auf, die 
Kinder wurden auf die Schultern gehoben, ein Hurra durchbraufte die lange, menschendurchwogte 
Straße, das sich fortpflanzte und anschwoll. 
Die Offiziere in den Autos dankten und grüßten. Sie fuhren dahin, begleitet von Jubelnden 
Rufen, die sich losrangen. In den Herzen der Saarländer glimmte eine Hoffnung auf. 
Man hatte ſie nicht vergeſſen, man erinnerte ſich ihrer wieder, man schickte ihnen Soldaten. 
Jubelnd wurden sie begrüßt, die Hüte flogen in die Luft, die Jungens kletterten auf die 
Bäume, auf die Laternenpfähle. 
Die Offiziere ftiegen vor dem ,,Kheiniſchen hof“ aus und gingen ins Haus. Aber ſie mußten 
wiederkommen, an die Senfter, sich zeigen auf den Balkons, damit man sie noch einmal sah, dle 
deutsche Uniform, die sich dort oben zelgte wie ein Phantom von etwas, das einmal war, das 
übriggeblieben ift, von einer einft ftolzen, großen, tapferen Armee. 
Das, was die Saarländer heute zuſammenftrömen ließ, war nicht Neugierde. Sie waren ge- 
kommen, um noch einmal etu»as zu sehen, das mit ihrer Jugend zuſammenhing, mit Ihrer Heimat, 
das zu dem Saarland gehörte wie die Wälder, die Bergwerke, die Saar. 
Die alten Regimenter, die man Ihnen genommen hatte, die paar Uniformen verkörperten ſie 
wieder, ließen Bilder auffteigen, bunt, heiter und glänzend, Erinnerungen, in denen man auf- 
gewachſen war, Erinnerungen an das ftolze Einft. 
Man hatte den Städten etwas genommen, der Glanz war verſchwunden. 
Und plötzlich rang es ſsich los, aus allen Kehlen klang’'s wie ein einziger chr; und das 
Lied ftleg auf, das verbotene Lied: „Deutschland, Deutschland über alles‘. 
Sie sangen es, die Hüte in der. Hand, unter freiem Himmel, wie ein BekenntnIs. Sle sangen 
ſich frei: „Deutschland, Deutschland, über alles in der Welt““. 
Das war etwas, das nicht zu erfticken war, nicht mit Befehlen und nicht mit Bajonetten, 
die Liebe zur Heimat, zum Vaterland! 
Aus allen Kehlen stieg dieses jubelnd auf und durchbraufte das Land. 
Da kamen die angelaufen von allen Seiten, die Behelmten, mit Ihren langen Bajonetten 
durchbrachen sie sich Bahn. Ueberall, so sie erschienen, wich die Menge, teilte sich der ſchwarze 
Strom, aber hinter ihnen schloß er sich wieder feft wie eine Mauer. 
„Deutschland, Deutschland, wenn es fteht zu Schutz und Trutze . . .“ Jubelte das Lied. 
Da fuhren die Panzerautos auf. ; 
Ls; Ihrem Gerassel wichen sie zurück, langſam, zögernd verteilten sie sich, und die Straße 
wurde leer. 
Als sie sich nach der Groß, die man in dem Trubel vergessen hatte, umschauten, ftand die alte 
Srau auf der Ladentreppe gegenüber dem ,,Kheinischen Hof““ und schaute mit gefalteten Händen 
zu dem Balkon herüber, und die Tränen liefen ihr über das verrunzelte Gesicht. 
„Unser Vadder, wann der das erlebt hätt ... er war doch aach emohl ... Soldat.‘ 
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