Saarkalender für das Jahr 1925
Mir gingen die Augen über. Gegen Abend hatte ich das 72. Lebensjahr erreicht. Da
nahm mir meine Frau, die für mein Leben bangte, die Uhr fort. Wilhelm II. ruht
neben Tante Emma, dem Erbſstück.
Der kleine Meſſingwecker – ſspäterhin, wie man sehen wird, mit Fug und Recht
Slavata genannt, – hatte von Anfang an einen Katarrh. Auf der Rückseite war
er mit einer Menge von Knöpfen und Schrauben ausgeſtattet, die ich bei der Manipula-
tion beſtändig verwechselte. Das gab zu manchem Ehekonflikt Anlaß. Ich verglich – im
Stillen – den Rücken des Weckers mit dem rückwärts verſchließbaren Kleid meiner
Frau; da konnte sich auch kein Menſch herausfinden vor lauter Druck- und anderen
Knöpfen. Ich hütete mich, den Wecker, aber auch meine Frau mit dieſem Vergleich
aufzuziehen. \
Das Läutewerk unseres Weckers hat das Organ eines irrſinnig gewordenen Feuer-
alarms. Das wäre an sich ganz gut. Aber das Läutewerk unseres Weckers hat ſeinen
eigenen Kopf. Wir stellen es auf eine bestimmte Stunde, in der wir wach zu werden
wünſchen, etwa 10%, Uhr vormittag. Plötzlich in der Nacht fahren wir auf, und die
Leute über, neben und unter uns fahren auch auf. Wo brennt's? Falscher Feueralarm.
Es war unser Wecker. Natürlich sagt meine Frau, ich sei ſchuld daran; weil ich ihn falſch
geſtellt habe.
Eines Tages ergriff ich kurz entschloſſen das kleine, gelbe Untier und warf es
zum Fenster hinaus in den Garten. Unglücklicherweise fiel es so glücklich, wie einſt
die beiden bekannten Ratsherren Martinitz und Slavata, die, aus dem Fenſter des
Prager Hradſchin geſchleudert, auf dem hiſtoriſchen Miſthaufen landeten. Darum entstand
dann der dreißigjährige Krieg. Weinend stürzte meine Frau unserer letzten Uhr nach,
aber nicht durchs Fenster. Als sie wiederkam, hoffte ich, Trümmer zu sehen (nämlich
Trümmer der Uhr). Aber das kleine Ding glänzte äußerlich unverſehrt. Es hüſtelte,
fauchte katarrhalisch, legte sich auf die andere Seite und war stumm.
Wir verſtauten die Uhr, die ich wegen der hiſtoriſchen Parallele Slavata taufte,
in der Schublade neben Tante Emma, dem Erbstück, und Wilhelm Il. a. D. und
ſchloſsſen Friede. Wir lebten nunmehr uhrenlos und in Freuden; so zeitlos selig wie
einſt in den Flitterwochen. Im nahm Urlaub; es waren herrliche Zeiten. (Meine Taſchen-
uhr hatte also doch recht gehabt.)
Aber ſchließlich trat die sogenannte Proſa des Lebens wieder gemahnend an uns
heran. Wir standen vor dem ſchwierigen Problem, ob wir wieder in die Zeit zurück-
kehren und uns eine Uhr anſchaffen sollten. Ich war entschieden dagegen. (Ueberdies
waren wir blank bis auf die letzte Mark.) Wir ſtützten uns auf Turm- und andere
Uhren der Nachbarſchaft. Wir hielten nachts den Atem an, um über uns in der 3. Etage
den feinen Glockenschlag der kleinen Pendeluhr zu hören. und freuten uns darüber
wie die Kinder. Ich wurde unendlich feinhörig, viſionär feinhörig und hörte Uhren
ſchlagen, die gar nicht da waren. Das führte zu manchem bedauerlichen Mißverſtändnis.
Andererſeits aber erlebte ich' ſo die ſchweigende Schönheit der Nacht und ihre leisesten,
intimſten Geräuſche.
Meine Frau, die sich nach einer eigenen Uhr zu sehnen begann, ſchloß eines
Tages heimlich die Schublade auf, in der die drei Toten lagen. Plötzlich ertönt ein
Schrei; ich eile hin. „Die Uhren gehen!“ ruft mir meine Frau, ganz bleich vor freudigem
Schreck, entgegen. Und wahrhaftig: die Tante Emma (das Erbſtück), Wilhelm II. und
die gelbe Weckuhr Slavata + sie gingen, korrekt und selbstversſtändlich, gingen, mit
Unſchuldsmienen in ihrem Ziffernblattgesicht, gingen, als wäre nichts geschehen! Wann
„ waren ſie aufgewacht? Tiefe Rätsel starrten mich an. Und da wage einer zu sagen, daß
Uhren. keine Seele besitzen!
Zwei Neunkirchener Schnapsbrüder unterhalten sich über ihr Lieblingsgetränk und ſtreiten vor
allem über die Zeit, wann er am besten schmecke. Der erste meint: „Morgens gleich nach dem
Uuſteheat: t: is homer! darauf der zweite: „Mir bekommt er am besten, wenn die Fichten
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