Saarkalender für das Jahr 1924.
Wie verhalten sich der wirtschaftlichen Notwendigkeit und den sich drohend erhebenden geiſtigen
Gewalten gegenüber unsere „guten Freunde, getreue Nachbarn und dgl.“? Old-England, der wägende,
kühl rechnende Kaufmann, empfindet ein Herzleiden, d. h., er fühlt sich an seinem Geldbeutel
geſchädigt und folgt seiner besseren Einsicht, die ihm den Untergang des ehemaligen Gegners,
eines guten Abnehmers, durchaus unerwünſcht erſcheinen läßt. Wie der ſelige Falstaff, der alte
Stammesgenosse des Engländers, hält auch der Nachfahr die Vorsicht für den besseren Teil der
Tapferkeit und glaubt, im politischen Schachſpiel mit der heißblütigen Marianne Sieger zu
bleiben. Frankreich, eine Demokratie, „gemildert“ durch eine allmächtige Finanz- und einflußreiche
Induſtriegruppe, ist in ſeinem Machthunger noch weit entfernt, den Blick in die Zukunft zu richten.
Rhein- und Ruhraktion werden aber ihr Urteil durch die unbestechliche Klio finden. Die Haltung
der Bevölkerung, die unsägliches erduldet, wird ein Ruhmesblatt der ſittlichen Kraft eines Herren-
volkes bleiben. Mit solchem Heroismus im Dulden und Leiden ſich für das Vaterland zu opfern,
iſt ohne Beiſpiel in der Geschichte; zugleich aber eine Gewähr für den Wiederaufstieg und die
glänzende Zukunft des Deutſchtums. Die Gegenwart, und sei sie noch so düſter und sternlos, sie
wird uns nicht zuſammenbrechen lassen:
Und wurillſt du schier verzagen,
Drückt Schmerz wie Bergeslaſt,
Vergiß, o deutsche Seele,
Nicht, daß du Flügel haſt!
In unserer engeren Heimat brechen endlich durch die grauen Wolken einige Sonnenſtrahlen.
Des armen Waisenkindes Stiefvater und Vormund, der Völkerbund, der offizielle Welthüter für
Freiheit, Wahrheit und Recht, beginnt, sich nach der dem Mündel versprochenen Wohlfahrt zu er-
kundigen. Der erste Lichtblick nach einem langen, bangen Winter des Mißvergnügens und der
Sorge. Zwar schwebt noch immer über dem Ländchen nach der Notverordnung Nr. 1 vom 7. März
das Schwestergebilde Nr. 2 vom 18. Juni und bindet Schrift und Rede. Bei Akten dieſer Art
heißt es alſo auch heute: „Der König iſt tot, es lebe der König!“ Notverordnungen treten ein,
wenn Gesetz und Recht nicht mehr ausreichen, ein zügelloſes Volk zu bändigen. Was iſt im Saartal
geschehen? „Ueber allen Gipfeln iſt Ruh’, in allen Wipfeln ſpüreſt du kaum einen Hauch!“ und ſo
martert sich ſeit sechs Monaten der regſame Geiſt aller Saarländer vergeblich abB, Grund und
Ursache seines harten Loſes zu erforſchen. Es ist ein ungelöſtes Preisrätsel geblieben und wird
es bleiben. Das Ammenmärchen über geheime Verbindungen, Putſschverſuche und andere große
Schande und Laster auf deutscher Seite hat von vornherein niemand im Volke geglaubt. Der
mit der Aufdeckung des Staatsverbrechens offiziell betraute Generalsſtaatsanwalt unterſucht pflicht-
gemäß seit einem halben Jahre; seine Akten darüber werden aber, wie bis zum heutigen Tage, auch
fernerhin ein Geheimnis bleiben. Fäden von Geheimverbindungen und Putſchverſuchen wurden
allerdings in Saarbrücken geknüpft und liefen hier zuſammen, der Münch’ner Prozeß war die
Sonne, die es an den Tag brachte. Kommt es also zu einer Gerichtsſizung, so wird ſie peinlich
werden- für die weſtliche Seite und zugleich eine glänzende Rechtfertigung für die nur nach Recht
und Ruhe sich ſehnende deutſche Bevölkerung. Ihre Beschuldigung beruht nur auf blöder Spitzel-
phantasie, und der Präsident, gereizt, ohne gereizt zu sein, iſt um eine üble Erfahrung reicher. Um
ein Nichts alſo wurde der Pfeil abgeſschoſſen, der unsere Presſe, das Palladium der Volksrechte,
die politiſchen Organiſationen, kurz die bereits flügelloſe ſaarländiſche Freiheitsgöttin ins Herz
treffen ſollle. Der Pfeil verfehlte aber das gesteckte Ziel. Auch in diesem ſaarländiſchen Kampf
standen, wie stets, in der ersſten Reihe vereint die Preſſe, die Männer der Genfer Delegationen und
der Landesrat. Dank, Dank ihnen; ihre Tatkraft feiert das Saartal mit Fug und Recht.
Im alten Buch der Heimat leucht's hell wie Sonnenſchein,
Ihr zeichnet eure Namen mit gold’nen Lettern ein. ;
Da fliegt die Hoffnung himmelan und drängt hinauf zum Licht,
Ein freies Volk in ſeinem Recht verläßt der Herrgott nicht.
Steht feſt zu euren Führern, treudeutsch in Kampf und Leid,
So steigt aus wilder Sturmesnacht die neue Blütezeit!
Und die Pairskammer des Saartals, der Studienausſchuß ? Er gab selbſt, wie in Genf versichert
wurde, zu der Notverordnung vom 7. März, über die sich alle Welt entsetzte, seine Zuſlimmung.
Mir gehen die Worte des Paulus durch den Sinn: „Ihr Brüder, wenn jemand unter euch über einem
Fehler betroffen werde, ſo weiſet ihn zurecht mit freundlichen Worten.“ Mildernde Umſtände auch
hier für den Angeklagtenn
Der Ausſchuß war nicht abgeneigt,
Er tut geheimnisvoll und ſchweigt;
Doch manchen drängt es aus dem Haus,
Er schleicht ganz leiſe ſich hinaus; ;
Er fühlt, wie's blutet innerlich
Und weint, wie Petrus, bitterlich.
Wie man vielleicht in Zukunft Poincars die innere Verschmelzung der deutſchen Stämme
zuſchreiben wird, sſo iſt dem Präsidenten Rault eine tiefere Erfaſſung des deutſchen Geiſtes
und seiner freien Geſtaltungskraft durch die Saarbevölkerung zu verdanken. , Es iſt nicht der
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