Saarkalender für das Jahr 1924.
und zwar freien Durchgang von und aus dem
Saargebiet auf allen Verkehrsſtraßen des be-
setzten und unbesetzten Gebietes und bei desſen
Durchquerung von und nach dem untbeſsetten
Deutſchland; weiterhin wurden zugesichert Be-
freiung von Durchgangszöllen, unnützen Ver-
zögerungen oder Beſchränkungen (Art. 321 des
Vertrages von Versailles). Durch dieſe Beſtim-
mungen sollte dem induſtriel ſo hoch ent-
wickelten Saargebiet der ungehinderte Abſatz
ſeiner Erzeugung gesichert sein.
| Demgegenüber ſind die andauernden Schi-
kanen und die oft völlige Behinderung des ſaar-
ländiſchen Durchgangsverkehrs seitens des fran-
zösiſchen Zolldienſtes und der französiſchen Be-
ſatzungstruppen in den besetzten Gebieten eine
offene Verlekung der im Vertrage von Ver-
ſailles den Saargebietsbewohnern und ihrem
Handelsverkehr ausdrücklich zugesicherten Rechte.
Der Regierungskommiſssion iſt es trotz der fort-
gesetzten Beſchwerden der Bevölkerung nicht ge-
lungen, endlich die grundsätzlichen Rechte des
Saargebietes gegen dieſe dauernden Uebergriffe
ſicherzuſtellen.
Der Geist des Saarſtatuts ſichert der Saar-
bevölkerung die freie Entwickelung ihrer Wirt-
ſchaft zu. Dies steht nicht im Widerspruch zu
der Einverleibung des Saargebietes in das fran-
zösiſche Zollgebiet. Die franzöſiſchen Ein- und
Ausfuhrverbote behindern vielfach in der wider-
ſinnigſten Weise die freie Verwertung der Saar-
erzeugniſſe auf den benachbarten Märkten, be-
sonders hinsichtlich der Düngemittel. In der Be-
seitigung dieſer die Saarinduſtrie lähmenden
Maßnahmen hat die Regierungskommiſsion nur
allzu häufig versagt.
5. Selbſt in die kulturellen und religiöſen Frei-
heiten der einheimiſchen Bevölkerung hat die
Regierungskommiſssion eingegriffen.
Das Saargebiet iſt Abſtimmungsgebiet; daher
waren die Verfaſſer des Saarſtatuts beſonders
sſorgſam darauf bedacht, an den beſtehenden
kulturellen Verhältnissen nicht zu rütteln.
Von altersher unterſtehen die Katholiken des
Saargebietes den Biſchöfen von Trier und
Speyer, und ihre Herzen hängen an ihren Ober-
hirten. Trotzdem unternahm die Regierungskom-
mission beim Vatikan in Rom den Versuch, das.
Saargebiet von seinen angeſtammten Diözesen
loszureißen; der Versuch war ergebnislos. Auch
das Bestreben, die evangeliſchen Kirchengemein-
den abhängig zu machen, iſt an dem zähen
Iiderſtandse ſämtlicher Beteiligten bisher ge-
eitert.
Die Erhaltung unserer deutſchen Schule iſt
gewährleistet (= 28 des Saarſtatuts). Die fran-
zöſiſchen Schulen sind ausdrücklich nur als
gecbenanlagen der Gruben“ zugelassen und aus-
ießli
„für das Personal und die Kinder des Perſo-
nals
bestimmt (§ 14 des Saarſtatuts). Es kann hier
nur das franzöſiſche Persſonal gemeint sein;
denn diesem und seinen Kindern mußte die
französiſche Schulbildung ſichergeſtellt werden.
Eine Veranlassung, diese französischen Schulen
den einheimiſchen Kindern zu öffnen, beſteht
nicht; sie iſt auch nicht vereinbar mit der im § 28
des Saarſtatuts gewährleiſteten Erhaltung der
deutſchen Schule. Die Regierungskommission je-
doch fördert in Nichtachtung dieſer Grundlagen
des Saarſtatuts mit allen Mitteln die Ausbrei-
tung der franzöſiſchen Schulen. Sie geſtattet "
allen deutschen Kindern, dort ihrer gesetzlichen
Schulpflicht zu genügen. Sie sieht wohlgefällig
zu, wie die franzöſiſche Grubenverwaltung durch
Ausnutzung der wirtſchaftlichen Abhängigkeit
ihrer Arbeiter und Angestellten deren Kinder
zum Beſuche der franzöſiſchen Schulen anhält.
Französiſche Militärgendarmen haben ſogar den
Besuch deutscher Arbeiterkinder auf französischen
Schulen kontrolliert.
Die Zugehörigkeit der Saarbevölkerung zur
deutschen Kultur verlangt die Aufrechterhaltung
einer regen Verbindung mit der deutſchen
Geiſteswelt. Der Bevölkerung iſt dieſes ein
dringendes Bedürfnis. Ohne Rüchkſ>icht hierauf
und im Gegensatz zu dem Geiſte des Saarſtatuts
ſtemmt sich die Regierungskommisſion mit den
kleinlichſten Mitteln der Polizeigewalt dagegen
mit dem offenbaren Ziele der geiſtigen Abſchnü-
rung und Verkümmerung der Bevölkerung. Ge-
lehrten, Künstlern, Literaten werden Schwierig-
keiten über Schwierigkeiten in den Weg gelegt.
Vorträge, sogar Programme für Liederabende,
müſſen polizeilich geprüft sein. In manchen
Fällen wurde die Einreiſe der Vortragenden
überhaupt versagt, unter anderen anerkannten
Führern der Gewerkſchaftsbewegung. Der Be-
zug bekannter deutſcher Zeitungen und Zeit-
schriften wurde verboten. Der Anstellung von
Redakteuren werden alle erdenklichen Hemm-
niſſe in den Weg gelegt. Eine Anzahl von ihnen
wurde ausgewiesen. Kaufleuten, Ingenieuren
und sonstigen Angehörigen freier Berufe, sogar
Krankenſchwestern, wird die Niederlaſſung im
Saargebiet verſagt. Dabei sind doch derartige
Maßnahmen auf die Geiſtesrichtung der Bevölke-
rung vollſtändig wirkungslos. Wohl aber er-
zeugen sie allgemein Aergernis und Mißſtim-
mung.
6. Am kraſsseſten tritt der Gegensatz zwischen
dem Geiſt des Saarſtatuts und der Praxis der
Regierungskommission hervor in der Behand-
lung der gewählten Vertreter der Bevölkerung.
Nur vertrauensvolle Zuſammenarbeit zwiſchen
Regierung und Bevölkerung kann die hohen
Ideale des Völkerbundes in die Tat umſetzen.
Das iſt stets der einheitliche Wunſch der ge-
samten Bevölkerung gewesen. Die Regierungs-
kommission hat aber von vornherein den Gut-
achten der gewählten Vertreter der Bevölke-
rung keinerlei Beachtung geschenkt. Die Miß-
achtung ging soweit, daß ſchließlich die ge-
wählten Vertreter es als sinnlos ablehnen
mußten, sich überhaupt noch zu Entwürfen der
Regierungskommisſſion zu äußern.
Diesem unhaltbaren Zuſtand wollte der Völker-
bundsrat durch Schaffung einer einheitlichen Volks-
vertretung, des Landesrates, ein Ende bereiten.
Die Bevölkerung ſetzte die, größten Hoffnungen
auf diesen Landesrat, denn jetzt war der Regie-
rungskommission Gelegenheit geboten, endlich
mit der Bevölkerung in das ersehnte Verhält-
nis gegenseitigen Vertrauens und williger Zu-
sammenarbeit zu kommen; auf dieser Grund-
lage inneren Friedens war ein gedeihlicher Auf-
bau zu erwarten. Aber wiederum hat es die .
Regierungskommission fertiggebrach,, einen
großen völkerverſöhnenden Gedanken des
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