Full text: 1923 (0001)

Saarfalender für das Jahr 1923 
toffeln! Das geht nicht mehr in den Kopf 
einer alten Dame, die noch gewohnt war, 
ihre Eier für zehn Pfennige auf dem Markt 
zu kaufen und der man die Koiylen jetzt für 
120 Mk., früher für 60 Pfennige ins Haus 
gebracht . . . In dieſer Stadt kann mon 1icht 
m2hr leben, nicht von preußiſchen Konſols 
und deutſher Kriegsanleihe . .. Aber man 
kann auh nicht mehr umziehen, Über! dieſe 
Grenze kann man ſeine Möbel nicht mit- 
nehmen, das Gepäck muß leicht ſein, ganz 
leicht ... ein Koffer, eine Handtaſche, denn 
auf den Douanen hilft niemand einer alten 
Frau, da ſtoßen und drängen ſich) die Leute 
rückſichtslos vorwärts. Sie hat ſchon Herz- 
klopfen, wenn: ſie daram denkt, wie ſie mit 
den zwei ſchweren Koffern durchkommen 
ſoll, an den fremden Zollbeamten ... Ein 
paar Kleider, ein paar Andeonken hat ſie 
eingepackt, das andere läßt ſie zurück... 
Ein Umzug koſtet ein Bermögen... in 
Franken... Wie arm ſind wir geworden, 
denkt ſie... Und iſt man einmal! drüben, 
ſo kann man ſich ſchwer, vielleicht nichts 
mehr ſchicken laſſen, keine Schachtel und 
kein Paket, man iſt abgeſchnitten von der 
Heimat... Sobald der Franc | hier ein- 
geführt iſt, wird die Wohnungsnot awuf- 
hören, hat der Präſident neulich geſagt. Das 
Wort hat getroffen, es iſt das Signal, daß 
es heißt, ſein Bündel ſchnüren. Nun iſts *6- 
weit ... das Land wird regiert von Griechen, 
Franzoſen, Schweden, Amerikanern und 
Chineſen... ſte fprehen eine Sprache, - die 
der Saarländer nicht verſteht. 
Sie ſißt "vor dem Screibtiſ< ihres 
Mannes und nimmt die alten Briefe heraus, 
ſie hat ſie immer einmal leſen wollen an 
einem beſchaulichen Abend, aber der iſt nie 
gekommen für ſie... -Briefe, die er ihr als 
Bräutigam geſchrieben hat, aus dem Krieg 
(0, aus ſeinen Garniſonen Saarlouis, Meß, 
dann im Schnee vor Paris, auf Vorpoſten... 
Die zierlichen feſten Schriftzüge auf; dem 
vergilbten Papier erwecken Evinnerungen, 
„denke an Dich, meine liebe =“. Fort, fort, 
das Streichholz flammt auf... ſie ſchichtet 
ſie im Ofen auf und bald flackert ein Feuer- 
Hen... Jhre Augen leſen die Briefe, die 
ſchon brennen . .. unſeren Major haben wir 
geſtern begraben . .. Briefe von einer Welt» 
ausſtellung, aus Cairo, von einem Rennen... 
einer Badekur .. weg mit allem... Alles 
das iſt Ballaſt .. für ſie... und mit einem 
Ruck legt ſie auß die letzten hinein, ge- 
ſchioſſenen Auges, während ihr nur die 
Hände leicht zittern... Dann ſind ſie ver» 
brannt, zu Aſche geworden .. und) ſie ſteht 
auf. Das Zimmer iſt geordnet, es ſieht feſt- 
lich gepußt und blank aus wie vor einein 
Feſt. . nur etwas kalt iſt es .., Draußen in 
der Küche wirtſchaftet der neue Burſch2, er 
raſſelt mit ihrem Goſhirr. mit meinem 
jhönen Porzellan, denkt die alte Dame, aber 
ſie hat nichts mehr zu ſagen, von jetzt ab 
G2hört die Wohnung den Fremden, die jeden 
Augenblick Kommen können. Raſch. den 
Mantel an, den Hut aufgeſeßt und während 
ſie die Handſchuhe überſtreift, gleitet ihr 
Blick noch einmal dur<h das Zimmer ... Die 
Bilder von den Wänden ſcheimen es Zu 
viſjen, fie haben ſich verändert, die lachenden 
Defreggerſhen Madeln, die ſich über den 
eleganten Salontiroler ausſchütten wollen, 
„achen nicht wie ſonſt, und die kokette Dame 
im weißen Empireklzeid unter "der Liiwde 
jieht nachdenklich aus .. Das alte Klawier . 
Sie hebt den Deckel und. ihre Händ gleitet 
leiſe darüber hin, es gibt einen dunklen 
Mollakkord, der leiſe in dem Zimmer nach- 
zittert .. der Seſſel dort am Ofen, der 
gemütliche Ohrenſtuhl .. wie gern hätt2 ſie 
wenigſtens den mitgenommen, jeden Tag 
ſaß ihr Mann darin und las ſeine Zeitung 
und er iſt an ſeinem letzten Abend darin 
eingeſchlafen ... Sie geht noh: einmal zu 
ihm und ſtreichelt leiſe, leiſe über ſeinen dünn- 
gewordenen Damaſt . .. wenn ſie den nur 
wenigſtens in Ehren halten... die Frem- 
den., es ſind Kinder dabei... der Seſſel 
ſieht ſo verlaſſen in ſeiner Eke, Immer ſaß 
ſie in der Dämmerſtunde dort . .. weiß ex 
es ſchon? .. Sie tritt an das breite Feniter 
ihres Erkers und. lehnt den Kopf gegen die 
Scheiben. Die Stadt liegt im grauen Regen, 
Jd. das Leben geht weiter. Auf den Brücken 
fahren die Bahnen. raſen die Autos, urd 
die ſc<weren Laſtwagen mit den ſiame- 
ſiſchen Chauffeuren rattern am Haus vor- 
über, daß es dröhnt ... die blanken Autos 
gleiten vorbei, hinter deren Scheiben man 
das Graublau fremder Militärs ſchimmern 
jieht, goldgeſtikte Käppis und fremde 
ſchwarzhaarige Frauengeſichter, welk und 
blaß, in Pelze gehüllt .. Und drüben l2bt 
und hänmimert es, die Arbeit raſtet nicht, ſie 
lärmt und ſtöhnt und ruft, Tag und Nacht. 
und am Himmel ſprüht der Funkenſturm 
ſeine blißenden Sterne aus .. Abſchied . 
Wenn die Roſen in den Anlagen blühen, 
verde 4 am Rhein ſitzen und den weißen 
Schiffen nachſehen, die nach dem Weſten 
fahren ... er iſt ſchön, der Ftolze „breite 
Rhein, ber es iſt der Rhein und nicht die 
Saar... es iſt die Fremde, niht diz Heinat. 
Sie wird bei den Verwandten ein Stübchen 
gaben. klein und ſonnig, aber es iſt nicht 
mehr ihr Haus, es ſind nicht mehr ihre alten 
ireben Möbel. Plößlich in der letzten Minute, 
zwiſchen Tür und. Angel, Überfällt ſie alles, 
1wus ſie zurückgedrängt und. ſenkt ſich ihr 
bleiſchwer . auf das Herz... wie Leine. Laſt, 
Abſchied von der Heimat, den Freunden, 
den Gräbern, von den ſchönen Wäldern, der 
Saar, den Hügeim dort, die ſchon grüi 
verden und den Görten. die ballid in weißer 
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