Full text: 1923 (0001)

Saarfalender für das Jahr 1923 
vem Schrank wurde das linke Bein abge- 
riſſen. Es war ein endloſer Krieg, und die 
Soldaten, die er vorübermarſchieren iah, 
jahen alle aus wie die lothringſchen Häuſer, 
exidgrau, einer glich dem anderen in ſeiner 
lezmfarbenen Uniform. Eines Tages ſc<hwie- 
gen die Kanonen, und man packte Hals über 
Kopf die Möbel ein. In „inem grünen 
Möbelawagen reiſte 'er über den Rhein in 
ein altes ſtilies Städtchen, das zwiſchen 
Ecrgen und Wäldern lag, er kam in zin 
einfaches altes Patrizierhaus am Markt 
mit grünen, kugelrund geſtußten Akazien 
und einer Bang vor dex Türe. Und rinys- 
um den Piaß, auf den er aus ſeiner Fenſter- 
niſche ſehen konnte, ſtanden dieſelben ehr- 
würdigen Häuſer mit den kleinen Fenſter- 
<hen, den Barocktüren, über denen abends 
ein Laternchen brannte, und vor jedem C>- 
fonſter hing ein kleiner Spiegel, auh vor 
dem ſeinen, und. er konnte alles ſehen, was 
auf dem Markt vor ſich ging. 'Aber es gt1g 
nicht vieh dort vor ſich. 
In der Mitte unter einer rieſigen Kaſtanie 
faſt verborgen ſtand ein Heiliger, von dem 
man nur nod. diz bleichen Hände ſah, die 
ein Buch hielten und ein Schwert, und ſeinen 
Strahlenkranz über der Tonſur. Zuweiien 
ſaß der ganze Markt voll Gemüſefrauen, und 
Obſtbuden ſtanden da, aber mittags waren 
ſie ſchon wieder verſchwunden, und dann war 
der Markt ſtill und leer, nur die frechen 
Spaßen lärmten und - zankten ſich um die 
paar Haferköxnen... 
Er war etwas reiſemüde geworden, der 
alte Schrank, aber er fühlte ſich hier nicht 
ganz heimiſch, er paßte nicht in eine ſo 
kleine Stadt, in dieſe philiſtröſe Umg3bunJ. 
Der jungen Frau," die ihn mitgenommen 
batte, ſtand er überall im Weg, überall hin- 
derte er, in dieſen niedrigen altmodiſchen 
engen Zimmerchen, an deren Decke er ſtieß. 
Man hatte ihm ſchon die obere Verzierung 
vbnehmen müſſen, und ſeinetwegen hatte 
bas Büfett auf den Flur geſtellt werden 
inüſſen. zr war gebaut für ein fürſtliches 
Jagdſchloß, er war zu prätentiss. Faſt 250 
Jahre war er nun alt. Er war eine Sehens- 
würdigkeit geworden. Es kamen öfters aite 
Herren, die ähn mit welken Händen ab- 
taſteten und ſchäzten. Er ſtieg jedes Jahr 
imi Wert, und ſie wollten ihn immer! mit- 
nehmen, dieſe Händler, aber die junge Frau 
ſagte, er gehöre in die Familie, ſie wolle ihn 
nicht verſchachern. So kam ex eines. Tages 
zu mir heraufgereiſt, Man hatte mich tze- 
feagt ob ich dieſes Monſtrum haben wolie, 
und. ih ſagte mit Freuden ja. 
Er kam in einer Kiſte von ſolchem Um- 
fang, daß er faſt die Haustüre einriß, vier 
Piännev brachten ihn kaum die Treppe her- 
auſ, und oben „vollte ſich nirgendwo ein Picot 
für ihn finden, er rutſchte aus einem Zinner 
ime andere, bis er endlich in der dunkelſten 
Eke des Eßzimmers ein beſcheidenes Plößk- 
<hen fand., Aber mit ihm iſt ein Stück Heimat 
in mein Haus gezogen, ein Stück Jugend, 
und ein Stück Landes5geſchi<hte iſt mix mit 
ihm aufgelebt. 
Er iſt -noch immer ſchön mit ſeinen buni- 
eingelegten Füllung2n, den ſchweren Bronze- 
ſhlöſſern mit den naſſauiſchen Löwen, aber 
25. iſt mix, als habe er ſich verändert, als 
glänze er nicht mehr wie einſt. In ſeinem 
Solze nagt der Wurm, ſeine Bretter ſind 
wacdlig geworden, und wenn ich die Schub- 
lade betrachte, in der iH einmal faſt erſtickt 
wäre, kann ich mir garnicht vorſtellen, 
daß man einmal ſo klein war. Wenn ich des 
Abends dur< das ſtille dunkle Zimmer 
komme, höre ich den Holzwurm darin ticken, 
(eiſe, leiſe... und es iſt mir, als ob ich ihn 
jeufzen hörte. Ein kleiner Laut. der wie ein 
Acchzen Klang... ganz deutlich hab ichs ge- 
hört... wie ein Hauch .-. 
Und ich) weiß, was ihm fehlt... Er trauert 
über ſein Land. Er hat Heimweh, der alie 
Scwvank. Er weiß, die Grenze iſt geſperrt 
mit Stacheldraht und Bajonetten, und er 
wird nie mehr dorthinkommen, er wird 
ſeine Heimat nie wiederſehen. Wie ſo vieie 
von uns... 
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