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stand der Bevölkerung waren in Frankreich 1944/45 schlechter als in Deutschland.
Als Ende 1945 in Lyon Hungerunruhen ausbrachen, wurde dort eine monatliche
Fettration von 100 g ausgegeben; der Normalverbraucher in Rheinland-Pfalz erhielt
zu dieser Zeit noch durchschnittlich 440 g, der Selbstverbraucher mehr. Die durch
schnittlichen offiziellen Brotrationen lagen in Frankreich bis 1949 etwa auf gleichem
Niveau mit den rheinland-pfälzischen Rationen (6-9 kg im Monat), nur selten etwas
höher und in manchen Gebieten wie der Mittelmeerküste oft darunter; Lebensmit
telkarten wurden auch in Frankreich noch bis Herbst 1949 ausgegeben. Schon
1944/45, also zu Beginn der schwierigen Nachkriegsjahre, wurde bei französischen
Jugendlichen aus Familien von Arbeitern und städtischen Angestellten ein Unterge
wicht von fast 20% und ein erhebliches Körpergrößendefizit festgestellt, während
noch im Frühjahr 1946 eine Untersuchung von Trierer Kindern nur bei 6,7% von
ihnen Unterernährung ergab. 60 Wie auf zahlreichen anderen Gebieten, kamen die
Kriegsfolgen bei Ernährungslage und Volksgesundheit in Deutschland erst 1946/47
voll zum Tragen. Allerdings war die Situation der französischen Bevölkerung tat
sächlich insofern zumindest gebietsweise besser, als sie offenbar leichteren Zugang
zum Schwarzen Markt hatte, wie sich etwa an dem im Vergleich zu Deutschland
niedrigeren Niveau der französischen Schwarzmarkt-Preise zeigt. Daß es aber nicht
nur den Deutschen schlecht ging, sondern es sich um eine „Welthungersnot“ 61 * han
delte, wurde nach dem Eindruck der FAO in Deutschland ebenso selten zur Kennt
nis genommen wie die Tatsache, daß Europa hier zunächst die Folgen des „organi
sierten Hungers“ erlebte, der Bestandteil der nationalsozialistischen Kriegführung
gewesen war. 61 Den Alliierten wurde im September 1947 in einer der FAO überreich
ten Denkschrift deutscher Ärzte vorgeworfen, daß es sich um die physische und
moralische Zerstörung einer großen Nation handelt, und unter diesem Eindruck eines
Hungerkrieges gegen Deutschland standen weite Teile der Bevölkerung. 63 Dagegen
brachen mehrfach heftige Konflikte zwischen Pariser Zentralregierung und Zonen-
Militärregierung aus, wenn Paris die von Baden-Baden geforderten Rationserhöhun
gen in der Zone am französischen Ernährungsniveau maß und für zu hoch hielt. 64
Für die deutsche Bevölkerung bedeutete das im Außenhandel jetzt eine doppelte
60 Vgl. hierzu unten S. 115 f. Die hier zitierten Zahlen nach dem Überblick von Az£ma,
Munich, S. 160 ff., und Rothenberger, Hungerjahre, S. 238 f. und 120. Zur französischen
Ernährungssituation s. umfangreiches weiteres Material in den oben S. 36 f. Anm. 9 genann
ten Werken; zum internationalen Vergleich in den letzten Kriegsjahren: Rationnement
alimentaire et ravitaillement.
61 So Weber, Weltwirtschaft, S. 45.
“ Ausführlich dazu das Kapitel „Der Hunger als Erbschaft des Nazismus“ bei de Castro,
S. 336 ff.
61 Zit. ebd., S. 340; de Castro gehörte dem betreffenden FAO-Ausschuß seinerzeit an. Zur
französischen Zone s. bes. Rothenberger, Hungerjahre, S. 35 ff., zur britischen Zone Stü
ber, im Überblick Trittel, Besatzungsmächte.
44 Vgl. etwa einen scharfen Protest, den Michel Debre, Generalkommissar für die besetzten
Gebiete, noch am 15. 9. 1947 an die Baden-Badener Wirtschaftsdirektion richtete; MdAE Y
(1944-1949) 441. Weitere Korrespondenzen in der gleichen Serie, zu den Forderungen der
Zonen-Militärregierung u. a. ein ebenso energisch formulierter Bericht Koenigs vom
26. 11. 1946, ebd. Y 438.