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vationen zusammen: Der finanziellen und ökonomischen Argumentation stand die
soziale Motivation gegenüber, den Versehrten einen Lebensinhalt zu geben, ihnen
das Gefühl der Wertlosigkeit zu nehmen und sie durch den wirtschaftlichen Einsatz
zu auch subjektiv vollgültigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Diese
Grundlinie der deutschen Kriegsopferpolitik, wie Michael Geyer sie in internationa
lem Vergleich für die Weimarer Republik betonte, 9 wurde 1950 wieder in verstärktem
Maße aufgenommen, und auch hierin schloß die Bundesrepublik stärker an die
Entwicklung im Südwesten als in der Bizone an. Vor diesem Hintergrund waren
auch die niedrigen Rentensätze konzeptionell zu verteidigen, weil auf diese Weise
der Ansporn zu eigener Arbeit stieg.
Durch alle Nachkriegsjahre hindurch ist in dem vielfältigen Schrifttum der Kriegs
opfer das Gefühl zu verfolgen, von der Umwelt persönlich für den Krieg und seine
verheerenden Folgen verantwortlich gemacht zu werden. Das gute Verhältnis zwi
schen deutschen Kriegsopfern und Teilen der französischen Militärregierung beruh
te unter anderem darauf, daß viele Franzosen eine solche Identifizierung von Kriegs
opfern und „Militaristen“, in deutlichem Gegensatz zu Teilen der deutschen Bevöl
kerung, bewußt und demonstrativ nicht Vornahmen. 1949/50 war damit bei den
Kriegsopfern vielfach schon eine Ausgangsstimmung des ungerecht für andere Bü
ßenden geschaffen. Während die meisten Kriegsopfer der britischen und amerikani
schen Zone jedoch mit dem Bundesversorgungsgesetz eine Verbesserung ihrer mate
riellen Situation konstatieren konnten, waren in der französischen Zone so
große Gruppen der Kriegsopfer von deutlichen Verschlechterungen betroffen, daß
die allgemeine Reaktion Wut und Enttäuschung war. Das Bundesversorgungsgesetz
schien im Südwesten den subjektiven Eindruck zu bestätigen, daß der neue Staat
nicht bereit war, die berechtigten Ansprüche derer, die mit ihrer Gesundheit oder mit
dem Leben ihrer Angehörigen für eine nicht von ihnen persönlich zu verantwortende
nationale Katastrophe „bezahlt“ hatten, auch anzuerkennen.
Am meisten verschärfte sich die Situation in Baden, dem Land, das die besten
Leistungen geboten hatte, dessen Kriegsopfer sich in ihrer materiellen Lage damit
am stärksten verschlechterten und dessen Staatspräsident sich zugunsten der Kriegs
opfer politisch besonders engagiert hatte. Auch in Rheinland-Pfalz und Württem-
berg-Hohenzollern mehrte sich jedoch der Protest. Baden hielt sich auch gegenüber
dem Bund an seine bisherige innenpolitische Linie. In den Einzelverhandlungen mit
dem Bundesarbeitsministerium sowie im Bundesrat und seinen Ausschüssen wurden
wenige Forderungen des Südwestens noch durchgesetzt. 10 Dennoch verschlechterte
sich das Gesamtniveau der Leistungen so stark, daß Baden am 27. Oktober 1950 im
Bundesrat als einziges Land gegen das Bundesversorgungsgesetz stimmte. Für
Rheinland-Pfalz protestierte Altmeier ebenfalls, allerdings nicht nur wegen der un
zureichenden Leistungen für Schwerbeschädigte, sondern auch, weil die Länder des
Südwestens die aus den bisher besseren Regelungen erwachsenden Mehrbelastun
gen im Zuge der Umanerkennung für eine Übergangszeit selbst tragen sollten;
Geyer, Vorbote.
10 Schriftverkehr und Protokolle in StA FR A 2/8147 und LHA KO 930/4760.