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Gesellschaft. Die Beschädigten und Hinterbliebenen selbst forderten die Anerken
nung einer materiellen und sozialen Sonderstellung als Ausdruck der gesellschaftli
chen Anerkennung ihres Schicksals. Sowohl aus Sicht der Opfer wie aus der der
Allierten verwoben sich hier die Kriegsopferfragen mit dem Problem der Einstellung
gegenüber dem Nationalsozialismus und der dem deutschen Volk in seiner Gesamt
heit zugemessenen Verantwortung. Die Kriegsopfer waren nicht durch politische
Ideen wie die Parteien geeint, nicht durch landsmannschaftliche Zugehörigkeit wie
die Vertriebenen, nicht durch soziale Kriterien, sondern sahen ihr Schicksal als
Folge der Zufälle des Verlaufs der Kämpfe. Ob ein Soldat nach dem Krieg seine
Karriere zerstört und sein Familienleben in der Regel stark in Mitleidenschaft gezo
gen sah oder ob er von gesundheitlichen Hemmnissen unbeschwert an die Weiter
führung seiner Tätigkeit oder den Aufbau einer neuen Berufslaufbahn gehen konnte,
hing in dieser Hinsicht weniger von seinem persönlichen Verhalten als vom Kriegs
verlauf ab. Gegenüber dieser subjektiven Einschätzung der Betroffenen neigten die
Allierten dazu, in dem Versehrten als besonders aktivem Soldaten zunächst den
deutschen „Militaristen“ zu sehen, und besonders die sowjetische Seite war von der
Herstellung eines Kausalzusammenhanges von Kriegsverletzung und Unterstützung
des Nationalsozialismus oft nicht weit entfernt.
Ende Februar 1946 beauftragte das Arbeitsdirektorium des Kontrollrats seinen Sozi
alversicherungs-Unterausschuß mit der Ausarbeitung von Grundsätzen für die
Kriegsopferversorgung. 7 * * Dabei einigten sich die Westmächte darauf, die Kriegsop
ferfrage als eine primär soziale Frage zu betrachten, sie daher auf der Ebene der für
Sozialpolitik zuständigen Kontrollratsgremien zu lösen und den Kriegsopfern einen
eigenen, von den Fürsorgeempfängern unterschiedenen Status zuzubilligen; die Für
sorge wurde im Kontrollrat nicht als Teil der Sozial-, sondern der Innenpolitik
behandelt. Die sowjetische Seite lehnte dies ab und verwies auf den politischen
Charakter des Problems, was in der Praxis die Befassung zahlreicher weiterer Kon
trollratsgremien mit der Problematik und eine entsprechende Verschleppung der
Angelegenheit bedeutete. Sachlich forderte sie die Verweisung der Kriegsopfer an
die Fürsorge. Zwei große Teilkomplexe wurden zu den wichtigsten Streitpunkten:
Die Berufsfürsorge, also die Wiedereingliederung der Beschädigten in den Arbeits
prozeß, in der der Kontrollrat Ende 1946 zu einer rudimentären Lösung kam; und
die Rentenversorgung der Kriegsopfer, über die Ende 1947 ein Kompromiß erzielt
wurde. Die Entwicklung in den Zonen war zu diesem Zeitpunkt allerdings teilweise
bereits über den Kontrollrat hinweggegangen.
Besonders deutlich wurden die unterschiedlichen sozialpolitischen Vorstellungen
der Alliierten in den sich über das ganze Jahr 1946 hinziehenden Kontroversen
um die Berufsfürsorge für Schwerbeschädigte, die seit 1920/23 zu den Kernbe
reichen der deutschen Kriegsopferversorgung gehörte. Franzosen und Briten enga
gierten sich in dieser Frage besonders stark und mit zunächst diametral entgegenge
7 Protokoll DMAN/M(46)6, 28. 2. 1946; MdAE Y (1944-1949) 631. Die unterschiedlichen
Standpunkte wurden u. a. Anfang Februar im Sozialversicherungsausschuß formuliert:
DMAN/SI/M(46)5; ebd.