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Wie das rheinland-pfälzische Gesetz, so wurden auch die beiden südlichen Gesetze
durch Veto der Militärregierung zunächst blockiert. Der Tübinger Gouverneur
begründete seinen Einspruch mit den zu hohen Leistungen, ein Einwand, den Staats
präsident Müller im Kabinett als nicht unberechtigt bezeichnete. 60 Intern wurde
Müller bedeutet, man verstehe auch nicht, weshalb die Gewerkschaften für das
Gesetz einträten, da es sich bei genauerer Durchrechnung ... zu Gunsten der Arbeitge
ber auswirke. 61
In Baden, wo der Einspruch zunächst indirekt durch Aufschub der Genehmigung
erfolgte, 62 63 wurden die Motive der Militärregierung intern deutlicher. Wie die ande
ren Militärregierungen frühzeitig über die Planungen informiert, 61 sahen die Freibur
ger in dem Gesetz nicht nur die finanziellen Risiken, in deren Beurteilung sie sich mit
den meisten Beteiligten einig waren. Landeskommissar Pene erachtete daneben die
politischen Gefahren, die es implizierte, für so bedeutend, daß er sich noch vor der
Landtagsdebatte selbst mit einer ausführlichen Analyse an die Baden-Badener Di-
rection du Travail wandte. 64 In einer scheinbar nebensächlichen Bestimmung hatten,
abweichend von den Koblenzern, die Freiburger und Tübinger den Ländern die
Zahlung der Grundrenten vorbehaltlich der Verrechnung mit dem Bund zugewiesen;
dies entsprach dem bis 1945 praktizierten Finanzausgleich in der Invalidenversiche
rung auf Reichsebene. Pene sah hier das Ende der finanziellen Autonomie der
Länder angekündigt. Mit der Angleichung der Arbeiter- an die Angestelltenversiche
rung (une mesure tres osee) und der Garantie von Mindestrenten sah er die Grundla
gen der deutschen Sozialversicherung verlassen und das Versicherungsprinzip als
solches zugunsten eines Systems allgemeiner Fürsorge unter der Kontrolle eines zentra
lisierten Staates aufgegeben. Durch sozialpolitische Überlegungen allein sei der
Gesetzentwurf daher nicht zu erklären, sondern nur unter Einbeziehung seiner poli
tischen Implikationen: er stelle eine große Etappe auf dem Weg zur Zentralisierung...
der politischen Macht dar und entziehe die Verwendung enormer Finanzmittel der
Kontrolle der Besatzungsmächte, deren Interessen, beispielsweise durch die Besat
zungskosten, dadurch unmittelbar berührt werden könnten. Schließlich verwies Pe
ne darauf, der Gesetzgeber, wenngleich in einem ehrlichen Idealismus handelnd,
hätte doch nicht die bösen Erfahrungen des Endes der Weimarer Republik vergessen
dürfen, zu deren Sturz die Rücknahme von Sozialleistungserhöhungen zweifellos
beigetragen habe; insofern könnten die vermutlich nicht zu finanzierenden Lasten,
die das Land mit dem Gesetz auf sich nehme, zu einer Bedrohung für die Demokrati
sierung dieses Landes werden. Daher sollte das Leistungsniveau zwar verbessert, das
Gesetz jedoch nicht in seiner Gesamtheit genehmigt werden.
Pene hatte mit dieser Kritik die Zusammenhänge richtig erfaßt: Die Vereinheitli
chung des Sozialleistungssystems war ein wesentlicher Schritt bei der praktischen
60 Widmer an Müller, 29. 7. 1949, StA SIG Wü 1/45, sowie Protokolle des Staatsministeriums,
7. 6., 28. 7. u. 11.8. 1949, ebd. Wü 2/780 u. 781.
41 Vermerk über Besprechung Müllers mit Oberst de Mangoux, 4.8. 1949; StA SIG
Wü 180/454 Bl. 435.
62 Daty an Wohieb, 13.8. 1949; StA FR A 2/8501.
63 Schriftverkehr in AdO Colmar Bade 2414/7.
44 Pene an Direction du Travail, 8. 7. 1949; ebd.