Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

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fenden sozialen Wohnungsbau einzusetzen seien; im Klartext bedeutete auch dies, 
daß nicht die Angestellten, sondern auf dem Umweg über den Bund die Steuerzahler 
die Defizite der Arbeiterversicherung übernehmen sollten. Als Möglichkeit, doch 
nicht verpflichtend wurde der Finanzausgleich unter den Krankenkassen vorgese 
hen, der in Rheinland-Pfalz und der Bizone detaillierter organisiert war. 
Im Leistungsbereich der Krankenversicherung wichen beide Länder gleichfalls, ge 
gen den Protest der Kriegsopfer, 50 51 von der Bizone ab, indem das Hausgeld für die 
Angehörigen erkrankter Versicherter, eine der sozial wichtigsten Kassenleistungen, 
nur als Kann- und nicht als Mußbestimmung erhöht wurde. Grund dafür war aller 
dings nicht eine sozialpolitische Reserve, sondern im Gegenteil die Tatsache, daß die 
französische Zone der Bizone in der Sozialpolitik voraus war: Die Bemessung des 
Hausgeldes fiel normalerweise in die Kompetenz der Krankenkassen-Selbstverwal- 
tung. In der Bizone gab es keine offizielle Selbstverwaltung, und so konnte dort der 
Gesetzgeber in den Leistungsbereich eingreifen; in der französischen Zone war die 
Selbstverwaltung jedoch wiederhergestellt, so daß mit der Kann-Bestimmung auf 
deren Entscheidungskompetenz Rücksicht genommen wurde. Die zuvor erfolgte 
Wiederzulassung der Sonderkassen hatte auch zur Folge, daß die Pflichtmitglied 
schaft der Kassen im SPD-geführten Ortskrankenkassenverband für die französische 
Zone, wie vor allem von den Württemberger Kassen seit 1946 gefordert, wieder 
aufgehoben und die Bildung eigener Landesverbände zugelassen wurde - eine Be 
stimmung, die sich gerade für die Ortskrankenkassen allerdings nicht durchsetzte; 
ihr Verband überdauerte die Besatzungszeit und existiert bis heute in der alten 
regionalen Zuständigkeit. 
Substantiell wichtigste Neuregelung war in beiden Ländern die auf Verlangen der 
Handwerkskammern 11 eingeführte Möglichkeit der Unterversicherung für freiwillig 
Versicherte und versicherungspflichtige Selbständige, also vor allem für Handwer 
ker; sie war weder im Bizonen-Gesetz noch in Rheinland-Pfalz vorgesehen. Die 
Sozialversicherung von Selbständigen war als eine der wesentlichen sozialpoliti 
schen Neuerungen des „III. Reiches“ 1938 für die Handwerker (zum 1. Januar 1939) 
und 1939 für Landwirte eingeführt worden. Sie wurde von den Betroffenen aber nur 
sehr zögernd akzeptiert, einerseits infolge der oben skizzierten Selbständigkeitsideo 
logie und grundsätzlichen Aversion gegen die Sozialversicherung, 52 aber auch, weil 
diese Gruppen die Gesamtheit des Beitrages und nicht wie Arbeitnehmer nur die 
Hälfte selbst zu bezahlen hatten. Baden und Württemberg-Hohenzollem wollten mit 
der Möglichkeit einer Unterversicherung diese finanzielle Last erleichtern und den 
Handwerkern die Möglichkeit geben, mit geringerem Einsatz dennoch die Mindest- 
Pflichtbeiträge für die Anwartschaft auf eine Rente zu erlangen; angesichts der 
wirtschaftlichen Schwierigkeiten sahen Landesregierung wie Parteien andernfalls 
die Gefahr von Zwangsverfahren und damit einer Rückentwicklung der gerade 
beginnenden Annäherung der Selbständigen an das Sozialversicherungssystem. 
50 Eingabe des VdK an Landtag, Fraktionen und Regierung, 8. 7. 1949; StA FR A 1/152 u. 
A 2/8501, von der SPD als Antrag übernommen, im Plenum jedoch abgelehnt. 
51 Handwerkskammer Reutlingen an Landtagspräsident Gengier, 3. 6. 1949, mit Resolution der 
Kammern; StA SIG Wü 1/45. 
52 Vgl. oben S. 319 f.
	        
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