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Allerdings setzten sie sich noch nicht mit den Grundsatzfragen auseinander, sondern
kritisierten wie auch andere Gruppen die Unterlassung rechtzeitiger Anhörung der
Wirtschaft; in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation könne es nicht um eine
Sanierung, sondern nur um eine Erhaltung der Grundlagen gehen. Als die breiten
Einheitsversicherungsdebatten einsetzten, hielten sich die Unternehmerorganisatio
nen aber auffallend zurück. Dies dürfte nicht nur an Zufälligkeiten der für 1945/46
besonders problematischen Aktenüberlieferung liegen, sondern hier kamen die zu
nächst schwierigen Organisationsbedingungen für die Unternehmerschaft zur Wir
kung sowie die sozialisierenden Tendenzen innerhalb der Militärregierung. Sie tru
gen dazu bei, daß die Unternehmerschaft allenfalls über die Leitungen ihrer Be
triebskassen in Erscheinung trat, noch eher aber, sofern dies möglich war, über die
Voten ihrer Belegschaften, von denen sie sich offensichtlich eine bessere Wirkung
versprach als von allzu offenen eigenen Interventionen.
Viel vehementer als die Unternehmer und ähnlich wie der Betriebskassenverband
meldeten sich die Angestelltenkrankenkassen zu Wort. Auch sie bezogen, al
lerdings in anderer Weise, die politischen Tendenzen der Arbeitsoffiziere ein, indem
sie die Debatte von vornherein auf der Ebene der Demokratisierungspolitik anzusie
deln versuchten. In einer umfangreichen Denkschrift wandte sich beispielsweise die
Freiburger Sektion des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen als Sprecherin der
Ersatzkassen in Baden schon Ende November 1945 gegen die Einheitsversicherungs
pläne, die ihr demnach offensichtlich früher als den Württembergern bekannt waren,
und sie trug ihre Einwände am 12. Dezember 1945 auch direkt bei Hesselbarth in
Baden-Baden vor. 42 Die Ersatzkassen stellten sich als die corporißcation 43 de l'idee
democrate dans l’assurance sociale dar und bezeichneten die Einheitskasse als le
comble de la dictature. Auch dieser Verband berief sich auf Äußerungen britischer
Arbeitsoffiziere, die Sozialversicherungsreform sei den Deutschen zu überlassen;
vor dem Wiederaufbau einer legislature solidement democrate solle daher von Refor
men Abstand genommen werden. Auch im Elsaß sei das deutsche Sozialversiche
rungssystem nach 1919 beibehalten worden, was seine Qualität beweise. 44 Eine Ver
billigung ergebe sich durch die Zusammenlegung der Kassen im übrigen nicht. 45 Mit
ihrer Berufung auf die Demokratisierungspolitik rührten die Ersatzkassen in der Tat
an die bereits mehrfach beobachtete Problematik der französischen Konzeptionen.
Doch angesichts der Finanzschwierigkeiten einerseits und des in seiner Zielsetzung
Union des Assurances-maladie Sociales des employes (sic) Freiburg an Service du Travail,
26. 11. u. 18. 12. 1945; AdO Colmar 2414/6.
45 Gemeint sein dürfte die „Verkörperung“.
44 Eine Eingabe des Verbandes an Hesselbarth, 17. 12. 1945 (ebd.), analysierte in Auseinander
setzung mit dem oben Anm. 22 zitierten Artikel von Martzloff die deutschen Traditionen in
der französischen Sozialversicherung. <
Die Statistiken des Verbandes waren allerdings am 27. 11. 1944 bei einem Bombenangriff
zerstört worden; desgl., 18. 12. 1945. Der Verband verteidigte hier auch die Betriebskassen.
Unmittelbar vor der Verordnung vom 27. 4. 1946 legte der Verband am 24. 4. 1946 (ebd.) dem
Freiburger Arbeitsoffizier noch einen Plan vor, wie die Ersatzkassen in einem Landesaus
schuß organisiert werden könnten für die Verhandlungen mit den Ärzten, Krankenhäusern
usw. Die Militärregierung hatte den Plan angefordert, was daraufhindeutet, daß Freiburg im
April 1946 noch nicht fest mit der Durchsetzung der Reform rechnete.