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3. Verwaltungskämpfe als Ersatz für „öffentliche Meinung“:
Die deutsche Sozialversicherungsdiskussion im Winter 1945/46
In den ersten Monaten der Besatzungszeit sind politische Auseinandersetzungen, so
scheint es vielfach, in der französischen Zone kaum geführt worden. Parteien und
Gewerkschaften befanden sich noch im Gründungsstadium, Zeitungen wurden erst
allmählich lizenziert und schrieben vielfach bewußt zurückhaltend, um der Zensur
der Militärregierung vorzubeugen. Übereinstimmend berichten sowohl die internen
Rapports der Militärregierung wie Zeitgenossen, welche damals politische Verant
wortung übernahmen, von der allgemeinen politischen Apathie, welche auf das
Ende des „III. Reiches“ folgte, von dem Mangel an Engagement, von den Schwierig
keiten, qualifizierte Persönlichkeiten für die vielfältigen politischen Aufgaben zu
gewinnen.
Wie die Debatte um die Sozialversicherung zeigt, ist hier jedoch zu differenzieren.
Verbreitete politische Lethargie bedeutete nicht ein Fehlen der politischen Ausein
andersetzung. Wenn auch nicht immer öffentlich, so wurden Kontroversen doch
unter den verschiedenen politischen Kräften und mit der Militärregierung zum Teil
sehr hart ausgetragen. Die Erinnerung der mit den Ernährungsproblemen und son
stigen Kriegsfolgen belasteten Zeitgenossen mag auch hier zur rückblickenden Ver
zerrung der Perspektiven wieder beigetragen haben. Gerade die .Sozialversicherung
bildete in der allgemeinen Reformstimmung der Zeit nach dem Zusammenbruch ein
Thema, das unter den sich neu oder wieder formierenden politischen Kräften beson
ders umstritten war.
Im Vergleich zur Disposition der Anhänger und der Gegner eines Einheitsversiche
rungssystems in der britischen und amerikanischen Zone 1 ergab sich trotz vielfach
ähnlicher Konstellationen in der französischen Zone dadurch eine etwas andere
Problemstruktur, daß die Reform im Südwesten nicht Planung blieb, sondern teil
weise realisiert wurde.
Im Jahre 1945 sind die Fronten der Auseinandersetzung noch nicht so klar zu fassen
wie in späteren Jahren. Dies liegt einmal daran, daß nach dem Abschluß der Neuor
ganisation des politischen Lebens 1949, bei der Debatte um die Wiedereinführung
des alten Sozialversicherungssystems, weit mehr Kräfte an der Diskussion beteiligt
waren als in der Frühzeit; hierauf wird zurückzukommen sein. 2 Zum andern liegt es
an der Verflechtung von Politik und Verwaltung: Infolge der zahlreichen
Funktions- und Ämterkumulationen sind Verwaltung, Parteien, Gewerkschaften
und Interessengruppen in der französischen Zone als Akteure im politischen Ent
scheidungsprozeß nicht klar voneinander zu unterscheiden, und insbesondere nicht
in der ersten Zeit, der Zulassungsphase der Organisationen. So war der christliche
Gewerkschaftler Karl Gengier Leiter der AOK Rottweil und Sprecher der württem-
berg-hohenzollerischen Ortskrankenkassen, wurde 1947 als CDU-Abgeordneter
Hockerts, Entscheidungen, bes. S. 36 ff.
2 Siehe unten S. 308 ff.