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Genossenschaftswesen, wobei über die Rückerstattung entzogener Vermögen aller
dings erst in einer Gesamtregelung entschieden werden könne.
In der Sozialversicherung sei gleichfalls eine scharfe epuration durchzuführen. Das
Leistungsniveau solle in allen Zweigen nach Möglichkeit gehalten werden. In der
Invaliden- und Rentenversicherung sei hierfür die Aufnahme von Bankkrediten
erforderlich und, wenn dies nicht ausreiche, die Gewährung von avances sur les
budgets des provinces\ neue Landesversicherungsanstalten sollten zunächst nicht
errichtet werden. Eine Unterstützung der Arbeitslosen sei allerdings noch auf län
gere Sicht nicht möglich: Le chömage masculin d'ouvriers aptes ne doitpas etre tolere.
Für Kriegsinvalide sei ein Versorgungssystem zu planen und zunächst die Fürsorge
einzuschalten. Rüstungsarbeiter sollten in enger Zusammenarbeit mit Gewerkschaf
ten und Unternehmern in associations speciales umgeschult werden vor allem auf
Berufe in Bergbau, Landwirtschaft und Bauwesen. Schließlich solle die Aufnahme
der zu erwartenden Flüchtlinge vorbereitet werden.
Hier wurden in Baden-Baden im Oktober 1945 Grundzüge formuliert, die während
der ganzen Besatzungszeit Relevanz behalten sollten. Das Prinzip, als demokratisch
beurteilte Institutionen wie Gewerkschaften, Arbeitsamtsbeiräte und Arbeitsgerichte
zu stärken, aber genau zu kontrollieren, wurde zu einem Leitmotiv der praktischen
Besatzungspolitik. Zahlreiche französische Kontrollratsinitiativen, gerade in diesen
Bereichen, entsprachen den Baden-Badener Anweisungen und zeigen erneut, daß
die Beziehungen zwischen Baden-Baden und Berlin auf französischer Seite enger
waren als bisher angenommen. Die starke Stellung der Gewerkschaften, wie sie in
der Sozialpolitik zu beobachten sein wird, war hier programmatisch begründet, die
die ganze Aufbauphase durchziehende Angst vor nationalsozialistischer Unterwan
derung allerdings ebenso deutlich herausgestellt. In der Sozialversicherung wurde
die besatzungspolitisch besonders brisante und umstrittene Frage der Staatszuschüs
se vorläufig zugunsten der Versicherten entschieden und die Erhaltung des Lei
stungsniveaus angestrebt.
Die Direktive gab insgesamt, wie dies in anderen Grundsatzdirektiven seit August
1945 vor allem für die Bereiche Kultur und Medien gleichfalls geschehen war, den
Rahmen für eine Verwaltung, die sich nicht an „Ausbeutungszielen“, sondern an der
Wiederaufbauarbeit und an französischen Demokratievorstellungen orientierte.
„Demokratisierung“ und scharfe Kontrolle gehörten in diesem Konzept zusammen.
Einige Bereiche wie die Flüchtlingsfrage entwickelten sich anders weiter; insgesamt
werden die Grundelemente aber, wie oben bereits zum Kontrollrat, im einzelnen in
der Praxis zu verfolgen sein. Umfangreichere Neuordnungspläne enthielt der Text
jedoch noch nicht; er griff eher auf Traditionen der Zeit vor 1933 zurück.
Im Bereich der Sozialversicherung waren solche Neuordnungsplanungen jedoch seit
August 1945 bereits angelaufen, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Hauptagenten
waren die einzige Landesversicherungsanstalt der Zone in Speyer, die ihr entspre
chende, besonders aktive französische Arbeitsverwaltung des Gebietes Hessen-Pfalz
in Neustadt, die Baden-Badener Direction du Travail sowie die französische Gruppe
beim Kontrollrat in Berlin. Während einerseits regionale Stellen der Militärregie
rung in detaillierte Verhandlungen mit den zuständigen deutschen Stellen eintraten,
entwarf die Zentrale in Baden-Baden, und zwar offenbar auf persönliche Anord