209
Galt dies im wesentlichen für alle Zonen, so kam für die französische Zone erschwe- ,
rend hinzu, daß fast alle Sozialversicherungsträger ihren Sitz außerhalb der Zone
hatten. Die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin wurde von den
Alliierten geschlossen und war bis Mitte 1946, als eine Liquidationsstelle eingerich
tet wurde, funktionsunfähig. Von den Landesversicherungsanstalten, Träger der
Invalidenversicherung für die Arbeiter und der Gemeinschaftsaufgaben in der Kran
kenversicherung, lag nur eine einzige auf dem Gebiet der französischen Zone: die
1944 nach Speyer zurückverlagerte LVA Westmark; die übrigen hatten alle ihren Sitz
in der amerikanischen Zone. 7 Lediglich die Allgemeinen Ortskrankenkassen konn
ten noch Zahlungen leisten, soweit ihre Kassenbestände in den letzten Kriegswo
chen nicht verschwunden waren. Das „Netz der sozialen Sicherheit“, wie man 40
Jahre später formulieren würde, drohte mangels Reduktionsmöglichkeit auf kleine
Einheiten also in den Zusammenbruch des Reiches hineingerissen zu werden. Dies
um so mehr, als auch abgesehen von diesen Problemen der unmittelbaren Kapitula
tionssituation die Finanzgrundlage der Versicherungen entscheidend beeinträchtigt
war: Da das Kapital der Sozialversicherung zum überwiegenden Teil zwangsweise in
Staatspapieren angelegt gewesen war, hatte es de facto der geräuschlosen Kriegs
finanzierung gedient und war damit nicht mehr realisierbar.
Diese drei Grundprobleme: Zusammenbruch der Finanzen, Blockierung der finanzi
ellen Transfers und teilweise Auflösung der Verwaltung, zwangen die Besatzungs
mächte zu raschem Handeln. Die Franzosen hätten die abwartende Politik ihrer
westlichen Alliierten nur dann übernehmen können, wenn sie von vornherein auf
eine De-facto-Integration ihrer Zone mit den anderen Zonen abgezielt hätten. In
Württemberg war dies im sozialpolitischen Bereich, wie zu zeigen sein wird, weitge
hend der Fall. Allgemein widersprach es aber der französischen Dezentralisierungs
politik in Deutschland, die für Teile des Besatzungsapparates den Charakter einer
Isolierungspolitik hatte und vor allem auf eine Sonderstellung des linken Rheinufers
abzielte. Brachen im sozialpolitischen Bereich einerseits die praktischen Schwierig
keiten einer Isolierungspolitik von vornherein auf, so brachten eben diese Probleme
die Besatzungsmacht aber umgekehrt auch in Zugzwang. Die Rückwirkung der
praktischen Besatzungspolitik auf die allgemeine französische Politik zeichnete sich
damit nicht nur auf Kontrollrats-, sondern auch auf Zonenebene sofort zu Beginn
der Besatzung schon ab.
In dieser Form hatten die mit der Planung für die Besatzungspolitik Beauf
tragten die Sachzwänge offensichtlich nicht vorausgesehen. Im Winter 1944/45 wa
ren den künftigen Arbeitsoffizieren in den Schulungskursen der Administration
Militaire Fran9aise en Allemagne (AMFA) die Grundzüge des deutschen Soziallei
stungssystems seit dem Kaiserreich erläutert und Handlungsanweisungen für die
praktische Politik nach der Eroberung gegeben worden.® Sie lehnten sich an die
7 Vgl. unten S. 211 ff.
Zur AMFA vgl. allgemein Willis, The French, S. 71 ff., und Lattard, Syndicalisme, S. 8 ff.
La politique sociale allemande wurde in drei Vorträgen von dem Volkswirtschaftler Maurice
Milhaud behandelt, die als confidentielgedruckt wurden in: A.M.F.A., Resumes des confe-
rendes faites au Centre d’instruction de Gouvernement Militaire de Decembre 1944 ä Mai
1945, De la part de l’Officier de Contröle de 2 e cl. Hepp, Directeur du Centre (AdO Colmar).