Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

209 
Galt dies im wesentlichen für alle Zonen, so kam für die französische Zone erschwe- , 
rend hinzu, daß fast alle Sozialversicherungsträger ihren Sitz außerhalb der Zone 
hatten. Die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin wurde von den 
Alliierten geschlossen und war bis Mitte 1946, als eine Liquidationsstelle eingerich 
tet wurde, funktionsunfähig. Von den Landesversicherungsanstalten, Träger der 
Invalidenversicherung für die Arbeiter und der Gemeinschaftsaufgaben in der Kran 
kenversicherung, lag nur eine einzige auf dem Gebiet der französischen Zone: die 
1944 nach Speyer zurückverlagerte LVA Westmark; die übrigen hatten alle ihren Sitz 
in der amerikanischen Zone. 7 Lediglich die Allgemeinen Ortskrankenkassen konn 
ten noch Zahlungen leisten, soweit ihre Kassenbestände in den letzten Kriegswo 
chen nicht verschwunden waren. Das „Netz der sozialen Sicherheit“, wie man 40 
Jahre später formulieren würde, drohte mangels Reduktionsmöglichkeit auf kleine 
Einheiten also in den Zusammenbruch des Reiches hineingerissen zu werden. Dies 
um so mehr, als auch abgesehen von diesen Problemen der unmittelbaren Kapitula 
tionssituation die Finanzgrundlage der Versicherungen entscheidend beeinträchtigt 
war: Da das Kapital der Sozialversicherung zum überwiegenden Teil zwangsweise in 
Staatspapieren angelegt gewesen war, hatte es de facto der geräuschlosen Kriegs 
finanzierung gedient und war damit nicht mehr realisierbar. 
Diese drei Grundprobleme: Zusammenbruch der Finanzen, Blockierung der finanzi 
ellen Transfers und teilweise Auflösung der Verwaltung, zwangen die Besatzungs 
mächte zu raschem Handeln. Die Franzosen hätten die abwartende Politik ihrer 
westlichen Alliierten nur dann übernehmen können, wenn sie von vornherein auf 
eine De-facto-Integration ihrer Zone mit den anderen Zonen abgezielt hätten. In 
Württemberg war dies im sozialpolitischen Bereich, wie zu zeigen sein wird, weitge 
hend der Fall. Allgemein widersprach es aber der französischen Dezentralisierungs 
politik in Deutschland, die für Teile des Besatzungsapparates den Charakter einer 
Isolierungspolitik hatte und vor allem auf eine Sonderstellung des linken Rheinufers 
abzielte. Brachen im sozialpolitischen Bereich einerseits die praktischen Schwierig 
keiten einer Isolierungspolitik von vornherein auf, so brachten eben diese Probleme 
die Besatzungsmacht aber umgekehrt auch in Zugzwang. Die Rückwirkung der 
praktischen Besatzungspolitik auf die allgemeine französische Politik zeichnete sich 
damit nicht nur auf Kontrollrats-, sondern auch auf Zonenebene sofort zu Beginn 
der Besatzung schon ab. 
In dieser Form hatten die mit der Planung für die Besatzungspolitik Beauf 
tragten die Sachzwänge offensichtlich nicht vorausgesehen. Im Winter 1944/45 wa 
ren den künftigen Arbeitsoffizieren in den Schulungskursen der Administration 
Militaire Fran9aise en Allemagne (AMFA) die Grundzüge des deutschen Soziallei 
stungssystems seit dem Kaiserreich erläutert und Handlungsanweisungen für die 
praktische Politik nach der Eroberung gegeben worden.® Sie lehnten sich an die 
7 Vgl. unten S. 211 ff. 
Zur AMFA vgl. allgemein Willis, The French, S. 71 ff., und Lattard, Syndicalisme, S. 8 ff. 
La politique sociale allemande wurde in drei Vorträgen von dem Volkswirtschaftler Maurice 
Milhaud behandelt, die als confidentielgedruckt wurden in: A.M.F.A., Resumes des confe- 
rendes faites au Centre d’instruction de Gouvernement Militaire de Decembre 1944 ä Mai 
1945, De la part de l’Officier de Contröle de 2 e cl. Hepp, Directeur du Centre (AdO Colmar).
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.