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auf den ersten Blick besonders eindrucksvoll, sind bei genauerer Untersuchung
daher nicht ganz so aussagekräftig. Sie bestätigen, daß die Nachkriegsbevölkerung
auf parallele Versorgungsmöglichkeiten zurückgegriffen haben muß, aber sie bestä
tigen nicht, daß dies in dem gelegentlich vermuteten großen Umfang geschah.
Wenngleich die Details hier nur kursorisch angedeutet werden konnten, fügen sich,
sofern man die zahlreichen methodischen Probleme einbezieht, die verfügbaren
quantitativen und qualitativen Informationen aus den verschiedenen Quellen zu
einem zwar quantitativ nicht ganz präzisen, doch für die Trendzwecke der vorliegen
den Arbeit ausreichenden und in seinen einzelnen Teilen im wesentlichen überein
stimmenden Gesamtbild. Unter der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ergeben
sich daraus Folgerungen für die sozialen, sozialpolitischen und politischen
Wirkungen des gleichgewichtslosen Versorgungssystems.
Sozialgeschichtlich gesehen, waren die individuellen Unterschiede in der Ernäh
rungssituation der Bevölkerung, wie beschrieben, groß, und Teile der Bevölkerung
sind von der Krise kaum tangiert worden. Insgesamt dürfte das Ausmaß des von
Normalverbrauchern aus parallelen Quellen erworbenen Ernährungsanteils von
rund 20 - 30% im Jahre 1945/46 auf rund 10 - 15% in den Jahren 1947/48 gesunken
sein und für die in diesem Versorgungsgeflecht besonders benachteiligten Gruppen
gelegentlich sogar noch darunter gelegen haben. Umgekehrt bedeutet dies jedoch:
Zu offiziellen Bedingungen und gegen Reichsmarkliquidität hat die Bevölkerung,
wiederum global gesehen, in den Jahren 1945 - 1948 bei steigender Tendenz schät
zungsweise 70 - 90% ihrer tatsächlichen Ernährung gedeckt, soweit sie als Selbst
oder Teilselbstversorger der Probleme nicht ohnehin weitgehend enthoben war , 45
Durch die Literatur geistert das oft zitierte Beispiel der 9,56 RM, zu denen man sich
angeblich zu offiziellen Preisen die Nahrungsrationen für einen Monat beschaffen
konnte. 46 Woher dieses Beispiel ursprünglich stammt, war nicht zu klären; mit
Sicherheit ist es aber zumindest in so verallgemeinerter Form falsch, auch wenn in
einer extrem niedrigen Versorgungssituation gelegentlich vielleicht so wenig Waren
zur Verfügung standen.
Tatsächlich hat das Bewirtschaftungssystem den Mangel zwar nicht bewältigen kön
nen - intern haben die zuständigen Fachleute auf deutscher wie französischer Seite
dies auch unermüdlich betont -, aber es hat den weitaus größten Teil dieser Bewälti
gung übernommen, soweit sie überhaupt gelungen ist. Wäre das Bewirtschaftungs
system weniger scharf durchgeführt worden, so hätten Ersparnisse und Löhne noch
weiter an Wert verloren, da dann ein noch größerer Teil der Lebensmittel zu
Schwarzmarktbedingungen hätte erworben werden müssen; das zumindest teilweise
Funktionieren des Bewirtschaftungssystems hat insofern auch dazu beigetragen, daß
die Schwarzmarktpreise nicht ins Uferlose stiegen, sondern insgesamt auf einem im
Im Frühjahr 1946 klagten französische Bewirtschaftungsoffiziere in Baden z. B. darüber, daß
Bauern ihre Lebensmittelkarten nicht abholten und damit das Rationierungssystem durch
einanderbrächten. - Die hier vorgelegten .Ergebnisse bestätigen insofern auch die in der
Bizone damals getroffene Feststellung: der größte Teil der Bevölkerung blieb auf die Kalorien
angewiesen, die auf die Lebensmittelkarten zugeteilt wurden; Schlange-Schöningen, S. 142.
16 So Samuelson, Le Mark, S. 179.