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in die anderen Zonen aus. Auch die Erfolgsquote bei der Überwindung der zahlrei
chen Kontrollen war von der individuellen Erfindungsgabe und Menschenkenntnis
beeinflußt. Schließlich spielten besonders für die Beschaffung höherwertiger Nah
rungsmittel und Tauschobjekte die individuellen Beziehungen zu Angehörigen der
Besatzungsmacht eine oft entscheidende Rolle. Die als Begleiterscheinung unter
Umständen auftretenden demoralisierenden Folgen für die Umgebung konnten ins
besondere auf dem Dorf erhebliche soziale Interaktionsprobleme schaffen.
In diesem vielfältigen Geflecht aus offiziellen und parallelen Versorgungsmöglich
keiten waren diejenigen am schlechtesten versorgt, die infolge ihrer sozialen Bezie
hungen, ihres Charakters, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Zugangsmöglichkeit zu
Natural- oder Kompensationslöhnen oder aus anderen Gründen allein oder vor
nehmlich auf die offiziellen Rationen angewiesen waren. Global gesehen, waren dies
vor allem Beamte, Angestellte, alte Menschen und Jugendliche in den Städten. Auch
sie haben das Ernährungsniveau , das nach allgemeinen Normen als Existenzmini
mum gilt, in den Nachkriegsjahren aber offensichtlich nicht erreicht, und hierin liegt
ein weiterer Ansatzpunkt dafür, die Bedeutung der parallelen Märkte genauer zu
fassen.
Der Kalorienbedarf eines Menschen beträgt je nach Alter, Geschlecht und Arbeits
belastung ca. 2 500-3 500 Kalorien am Tag, das Existenzminimum etwa 1 500 Kalo
rien. 21 Mit Ausnahme einiger Schwerarbeiterkategorien, die an das Minimum von
2 500-2 800 Kalorien kamen, sind die Normalrationen während der Besatzungszeit
nirgends in der französischen Zone erreicht worden. In der Regel unterschritten
nicht nur die ausgegebenen, sondern auch die offiziell vorgesehenen Rationen aber
das Existenzminimum. 22 * Die Militärregierung hat dies offiziell nur zögernd zugege
ben, intern und gegenüber den Alliierten die Situation aber in ihrer ganzen Dramatik
gesehen und geschildert und sich intensiv um eine Verbesserung bemüht. 21 Selbst das
Monatsbulletin des Oberkommandos, als zwar vertrauliche, intern aber doch relativ
weit verbreitete Berichterstattung immer auf eine möglichst günstige Darstellung der
in der Zone erzielten Leistungen bedacht, stellte im März 1946 fest, daß das Sinken
der offiziell angekündigten Kalorienzahl auf etwa 1 000 Kalorien der Bevölkerung
nicht mehr le strict minimum vital sichere. 24 Bei erheblichen regionalen Unterschie
11 Vgl. zu den ernährungsphysiologischen Hintergründen der Nachkriegszeit u. a. Rothenber
ger, Hungerjahre, S. 87-90 u. 130. Die Völkerbunds-Normsätze der Zwischenkriegszeit sind
aufgeführt in: Rationnement alimentaire, S. 30. 1984 setzte die FAO als Normbedarf für
normal arbeitende Männer 3 000 kal., für Frauen 2 200 kal. an; La sante dans le Tiers monde,
in: Le Monde, Dossiers et Documents No. 108 (Februar 1984).
22 Vgl. die Tabellen bei Rothenberger, Hungerjahre, S. 244 ff.
21 Vgl. beispielsweise die laufenden Monatsberichte des badischen Arbeitsoffiziers in AdO
Colmar Bade 2402, die innerfranzösische Korrespondenz in MdAE Y (1944-1949) 433 ff.
oder die französisch-amerikanischen Auseinandersetzungen um die Getreidelieferungen,
welche die Amerikaner teilweise von politischen Gegenleistungen der Franzosen abhängig
machten; zum Frühjahr 1946 vgl. unten S. 161, zum Herbst 1946 Materialien in MdAE
ebd. 437.
24 Bulletin d’activite, März 1946, S. 8. Ebenso, in korrekter Darstellung der verheerenden
Versorgungslage, der erste Jahresbericht der Militärregierung: GMZFO, Un an d’activite
fran^aise en Allemagne, Baden-Baden 1946, S. B 1 f.; vgl. auch die laufenden Statistiken
des: Bulletin statistique, die Sollzahlen und tatsächlich ausgegebene Rationen vergleichen.