Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

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in die anderen Zonen aus. Auch die Erfolgsquote bei der Überwindung der zahlrei 
chen Kontrollen war von der individuellen Erfindungsgabe und Menschenkenntnis 
beeinflußt. Schließlich spielten besonders für die Beschaffung höherwertiger Nah 
rungsmittel und Tauschobjekte die individuellen Beziehungen zu Angehörigen der 
Besatzungsmacht eine oft entscheidende Rolle. Die als Begleiterscheinung unter 
Umständen auftretenden demoralisierenden Folgen für die Umgebung konnten ins 
besondere auf dem Dorf erhebliche soziale Interaktionsprobleme schaffen. 
In diesem vielfältigen Geflecht aus offiziellen und parallelen Versorgungsmöglich 
keiten waren diejenigen am schlechtesten versorgt, die infolge ihrer sozialen Bezie 
hungen, ihres Charakters, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Zugangsmöglichkeit zu 
Natural- oder Kompensationslöhnen oder aus anderen Gründen allein oder vor 
nehmlich auf die offiziellen Rationen angewiesen waren. Global gesehen, waren dies 
vor allem Beamte, Angestellte, alte Menschen und Jugendliche in den Städten. Auch 
sie haben das Ernährungsniveau , das nach allgemeinen Normen als Existenzmini 
mum gilt, in den Nachkriegsjahren aber offensichtlich nicht erreicht, und hierin liegt 
ein weiterer Ansatzpunkt dafür, die Bedeutung der parallelen Märkte genauer zu 
fassen. 
Der Kalorienbedarf eines Menschen beträgt je nach Alter, Geschlecht und Arbeits 
belastung ca. 2 500-3 500 Kalorien am Tag, das Existenzminimum etwa 1 500 Kalo 
rien. 21 Mit Ausnahme einiger Schwerarbeiterkategorien, die an das Minimum von 
2 500-2 800 Kalorien kamen, sind die Normalrationen während der Besatzungszeit 
nirgends in der französischen Zone erreicht worden. In der Regel unterschritten 
nicht nur die ausgegebenen, sondern auch die offiziell vorgesehenen Rationen aber 
das Existenzminimum. 22 * Die Militärregierung hat dies offiziell nur zögernd zugege 
ben, intern und gegenüber den Alliierten die Situation aber in ihrer ganzen Dramatik 
gesehen und geschildert und sich intensiv um eine Verbesserung bemüht. 21 Selbst das 
Monatsbulletin des Oberkommandos, als zwar vertrauliche, intern aber doch relativ 
weit verbreitete Berichterstattung immer auf eine möglichst günstige Darstellung der 
in der Zone erzielten Leistungen bedacht, stellte im März 1946 fest, daß das Sinken 
der offiziell angekündigten Kalorienzahl auf etwa 1 000 Kalorien der Bevölkerung 
nicht mehr le strict minimum vital sichere. 24 Bei erheblichen regionalen Unterschie 
11 Vgl. zu den ernährungsphysiologischen Hintergründen der Nachkriegszeit u. a. Rothenber 
ger, Hungerjahre, S. 87-90 u. 130. Die Völkerbunds-Normsätze der Zwischenkriegszeit sind 
aufgeführt in: Rationnement alimentaire, S. 30. 1984 setzte die FAO als Normbedarf für 
normal arbeitende Männer 3 000 kal., für Frauen 2 200 kal. an; La sante dans le Tiers monde, 
in: Le Monde, Dossiers et Documents No. 108 (Februar 1984). 
22 Vgl. die Tabellen bei Rothenberger, Hungerjahre, S. 244 ff. 
21 Vgl. beispielsweise die laufenden Monatsberichte des badischen Arbeitsoffiziers in AdO 
Colmar Bade 2402, die innerfranzösische Korrespondenz in MdAE Y (1944-1949) 433 ff. 
oder die französisch-amerikanischen Auseinandersetzungen um die Getreidelieferungen, 
welche die Amerikaner teilweise von politischen Gegenleistungen der Franzosen abhängig 
machten; zum Frühjahr 1946 vgl. unten S. 161, zum Herbst 1946 Materialien in MdAE 
ebd. 437. 
24 Bulletin d’activite, März 1946, S. 8. Ebenso, in korrekter Darstellung der verheerenden 
Versorgungslage, der erste Jahresbericht der Militärregierung: GMZFO, Un an d’activite 
fran^aise en Allemagne, Baden-Baden 1946, S. B 1 f.; vgl. auch die laufenden Statistiken 
des: Bulletin statistique, die Sollzahlen und tatsächlich ausgegebene Rationen vergleichen.
	        
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