Full text: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953

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Die Hamstertätigkeit wurde vielfach von Familienmitgliedern ausgeübt, die keinen 
Arbeitsplatz hatten; 9 insofern sind die Fehlschichten nur ein Anhaltspunkt und kein 
direkter Indikator für die Aktivitäten auf den parallelen Märkten. Wenn man an 
nimmt, daß die mit anderen Ursachen zusammenhängenden Fehlschichten einer 
seits und der durch Krankmeldungen kaschierte, aber gleichfalls dem Hamstern 
dienende Anteil andererseits sich als Fehlerquoten etwa ausgleichen - eine Annah 
me, die statistisch nicht überprüfbar ist -, so ergibt sich insgesamt, daß rund 20-15% 
der Arbeitszeit, bei sinkender Tendenz, für parallele Aktivitäten aufgewendet wurde. 
Allerdings ist auch damit noch kein Indikator für den Umfang der dabei erstandenen 
Waren gewonnen. Aufgrund der oben genannten individuellen Mengenbeispiele ist 
anzunehmen, daß 20% Absentismus bei Arbeit auf dem Land vielleicht einen größe 
ren, bei reiner Hamstertätigkeit aber in der Regel einen geringeren relativen Ertrag 
erbrachten. 
Der eindeutigste Indikator für das Ausmaß der parallelen Versorgungsmöglichkei 
ten wäre die Feststellung des Unterschiedes zwischen offizieller Versorgung und 
tatsächlichem Verbrauch. Wiederum lassen sich hier keine genauen Quantifizierun 
gen vornehmen, so umfangreich auch das vorliegende statistische Material über die 
Ernährungslage ist. Rothenberger hat am Beispiel von Rheinland-Pfalz untersucht, 
von welchen Faktoren die individuelle Versorgungslage in der Nachkriegszeit ab 
hing. 10 Das offizielle Verbrauchergruppensystem war, ohne Zulagen für Kran 
ke zu rechnen, in rund 60 verschiedene Kategorien aufgeteilt, vom Säugling bis zu 
den verschiedenen Schwerarbeitergruppen. 11 Welche Rationen ein Verbraucher offi 
ziell erhielt, hing also zunächst von seinem Platz in diesem System ab. 
In der französischen Zone waren rund 30% der Bevölkerung Teil- oder Vollselbst 
versorger, denen als Ausgleich für die Last der Ablieferungspflicht offiziell höhere 
Rationen als dem Normalverbraucher zustanden. Im September 1947 waren in 
Rheinland-Pfalz nur 52,9% der Bevölkerung Normalverbaucher ohne Zulagen, und 
16,7% erhielten Zulagen. In Baden erhielten zur gleichen Zeit 21,2% der Bevölke 
rung Zulagen, in Württemberg-Hohenzollern 17,7%, im Saarland 27,3%, in der 
Gesamtzone incl. Saar 19,2 %. 12 Ein erheblicher Teil der Bevölkerung - in Rheinland- 
Pfalz etwa zwei Drittel - lebte zudem in ländlichen Siedlungen, wo die Beschaffung 
zusätzlicher Nahrung leicht war. Zum Ausgleich dafür verbesserte die Militärregie 
rung ab Oktober 1946 die offizielle Versorgung der größeren Städte und Arbeiterge 
meinden in der Zone als Prioritätsstädte. Relativ am schlechtesten gestellt waren in 
dem offiziellen Zulagensystem die Hausfrauen und Mütter, die keine Zulagen erhiel 
ten. 
Ein hier besonders interessierender Teilbereich des Zulagensystems läßt sich ge 
nauer quantifizieren: der Verpflegungsanteil der Naturallöhne in den Priori 
tätsbetrieben. Im Lande Baden waren im Februar 1947 383 Firmen zu Prioritäts- 
9 Vgl. dazu plastisch Eucken, Deutschland vor und nach der Währungsreform, S. 135 ff. 
10 Rothenberger, Hungerjahre, passim. 
" Ebd., S. 65 ff. 
12 Berechnet nach den Statistiken in Bulletin statistique No. 4 (Okt. 1947), S. 37; No. 5 (Jan. 
1948), S. 40; No. 6 (Juni 1948), S. 29.
	        
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