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Die Hamstertätigkeit wurde vielfach von Familienmitgliedern ausgeübt, die keinen
Arbeitsplatz hatten; 9 insofern sind die Fehlschichten nur ein Anhaltspunkt und kein
direkter Indikator für die Aktivitäten auf den parallelen Märkten. Wenn man an
nimmt, daß die mit anderen Ursachen zusammenhängenden Fehlschichten einer
seits und der durch Krankmeldungen kaschierte, aber gleichfalls dem Hamstern
dienende Anteil andererseits sich als Fehlerquoten etwa ausgleichen - eine Annah
me, die statistisch nicht überprüfbar ist -, so ergibt sich insgesamt, daß rund 20-15%
der Arbeitszeit, bei sinkender Tendenz, für parallele Aktivitäten aufgewendet wurde.
Allerdings ist auch damit noch kein Indikator für den Umfang der dabei erstandenen
Waren gewonnen. Aufgrund der oben genannten individuellen Mengenbeispiele ist
anzunehmen, daß 20% Absentismus bei Arbeit auf dem Land vielleicht einen größe
ren, bei reiner Hamstertätigkeit aber in der Regel einen geringeren relativen Ertrag
erbrachten.
Der eindeutigste Indikator für das Ausmaß der parallelen Versorgungsmöglichkei
ten wäre die Feststellung des Unterschiedes zwischen offizieller Versorgung und
tatsächlichem Verbrauch. Wiederum lassen sich hier keine genauen Quantifizierun
gen vornehmen, so umfangreich auch das vorliegende statistische Material über die
Ernährungslage ist. Rothenberger hat am Beispiel von Rheinland-Pfalz untersucht,
von welchen Faktoren die individuelle Versorgungslage in der Nachkriegszeit ab
hing. 10 Das offizielle Verbrauchergruppensystem war, ohne Zulagen für Kran
ke zu rechnen, in rund 60 verschiedene Kategorien aufgeteilt, vom Säugling bis zu
den verschiedenen Schwerarbeitergruppen. 11 Welche Rationen ein Verbraucher offi
ziell erhielt, hing also zunächst von seinem Platz in diesem System ab.
In der französischen Zone waren rund 30% der Bevölkerung Teil- oder Vollselbst
versorger, denen als Ausgleich für die Last der Ablieferungspflicht offiziell höhere
Rationen als dem Normalverbraucher zustanden. Im September 1947 waren in
Rheinland-Pfalz nur 52,9% der Bevölkerung Normalverbaucher ohne Zulagen, und
16,7% erhielten Zulagen. In Baden erhielten zur gleichen Zeit 21,2% der Bevölke
rung Zulagen, in Württemberg-Hohenzollern 17,7%, im Saarland 27,3%, in der
Gesamtzone incl. Saar 19,2 %. 12 Ein erheblicher Teil der Bevölkerung - in Rheinland-
Pfalz etwa zwei Drittel - lebte zudem in ländlichen Siedlungen, wo die Beschaffung
zusätzlicher Nahrung leicht war. Zum Ausgleich dafür verbesserte die Militärregie
rung ab Oktober 1946 die offizielle Versorgung der größeren Städte und Arbeiterge
meinden in der Zone als Prioritätsstädte. Relativ am schlechtesten gestellt waren in
dem offiziellen Zulagensystem die Hausfrauen und Mütter, die keine Zulagen erhiel
ten.
Ein hier besonders interessierender Teilbereich des Zulagensystems läßt sich ge
nauer quantifizieren: der Verpflegungsanteil der Naturallöhne in den Priori
tätsbetrieben. Im Lande Baden waren im Februar 1947 383 Firmen zu Prioritäts-
9 Vgl. dazu plastisch Eucken, Deutschland vor und nach der Währungsreform, S. 135 ff.
10 Rothenberger, Hungerjahre, passim.
" Ebd., S. 65 ff.
12 Berechnet nach den Statistiken in Bulletin statistique No. 4 (Okt. 1947), S. 37; No. 5 (Jan.
1948), S. 40; No. 6 (Juni 1948), S. 29.