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treffen, keinenfalls aber für eine vergangene Epoche, deren
Menschen nachzuempfinden wir nicht imstande sind^s.
Die Schwierigkeit löst sich auch dann nicht, wenn man
den einzelnen Zuschauer und Zuhörer durch die Publikums-
masse, die Kollektivseele ersetzt. Wenn auch zweifellos die
Reaktionen auf ein bestimmtes Ereignis bei zwei durch Jahr¬
hunderte getrennten Volksmassen mehr Aehnlichkeit mitein¬
ander haben als bei zwei durch den gleichen Zeitabstand ent¬
fernten Einzeln:enschen, so unterliegt diese Menge doch dem
gleichen Gesetz der Wandlung wie der Einzelne und ist durch
diese Wandlung der Betrachtung vom modernen Standpunkt
aus ebenso unzugänglich wie der Einzelmensch. Diese Fremd¬
heit hat zur Folge, daß wir zu einer vollkommenen, zu einer
wirklich lebendigen Rekonstruktion des Theaters vergangener
Zeiten niemals kommen werden.
Immerhin läßt sich für die nicht rekonstruierbare unbe¬
kannte Größe ,,Publikum" häufig ein Ersatzfaktor einsetzen,
der wenigstens eine annähernd richtige Vorstellung vom
Theaterbegriff vergangener Zeiten zuläßt: das ist der Stil¬
wille der einzelnen Epochen, der sich vor allem aus der
bildenden Kunst der Zeit abstrahieren läßt. Kann man aus
Bauten, Plastiken, Bildern einer Zeit ihr Raum- und Form¬
gefühl, ihr Sehen erschließen, so ist damit auch ein Hinweis
auf die Art des theatralischen Sehens gegeben, auf das Bild,
das der Zuschauer unter Zuhilfenahme seiner eigenen Phantasie
aus dem Dargestellten zu schaffen bemüht ist. Erst mit
dem seit Winckelmannn und Lessing gewonnenen Bild der
Antike verbunden können die Tragödien, die Amphitheater,
die Vasenbilder eine Ahnung von der theatralischen Realität,
vom Wesen des griechischen Theaters geben; der aus Einzel¬
erscheinungen gewonnene Begriff der Kultureinheit ist der
Schlüssel zum Verständnis dieser und anderer bisher unge»
deuteten Einzeldokumente.
Eine solche Betrachtungsweise ist heute für alle die Zeiten
möglich, die eine in sich geschlossene Kultur- und Stilepoche
darstellen, Zeiten, die ihr Kunstwollen, den Ausdruck ihrer
Geisteshaltung, in überzeitlichen Denkmälern so fest und ein¬
deutig dokumentiert haben, daß wir es heute aus diesen Sym¬
bolen wieder herausabstrahieren können. Für das Deutschland
der ersten Hälfte des 16. Ih. fehlt aber ein solches Sym¬
bol als eindeutiger Ausdruck. Späteste Gotik (Breisacher
128. L a ch m a n n dürfte kaum imstande sein, seine Behauptung
S. 17: „Die Menge, die vor einer Terenzbühne saß, sah mit ihrem geistigen
Auge eine Straße" zu beweisen.