Full text: Zur Entwicklung und Bedeutung des deutschen Meistergesangs im 15. und 16. Jahrhundert

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zählende Tabelle der Meistertöne im ersten 5lkt entspricht, mag 
sie dramatisch noch so sehr beanstandet werdenh, trefflich dem 
Charakter vieler scholastischer und protestantischer Meisterlieder. 
Wagners Drama, das uns zugleich mit Hans Sachs, dem 
hervorragendsten Vertreter der Meisterkunst, wie mit dem Durch¬ 
schnitt der Kunstbeflissenen bekannt macht, das in Walther einen 
jungen Dichter hinstellt, der die eingerostete alte Kunstübung 
zu neuem Leben erweckt, malt das umfassendste poetische Bild des 
Meistergesangs, das unsre Literatur besitzt. Und wir lernen 
in ihm die Meister nicht nur als Sänger, sondern ebenso in 
ihrem Berufe kennen: wir treten in Sachsens Schusterwerkstatt 
ein, und wir erblicken ihn und seine Zangesgenossen inmitten 
ihrer Zünfte. Auch die sittliche Aufgabe der edlen Kunst, die 
Bürger über die kleinen Sorgen des Ultags, über „Kindtauf', Ge¬ 
schäfte, Zwist und Streit" in eine idealere Sphäre zu erheben, in der 
sogar die Schranken zwischen Gewerken, Zünften und Parteien 
fallenh, wird bei Wagner aufgezeigt; und Sachsens letzte Un¬ 
sprache, halb an das Nürnberger Volk, halb ad spectatores 
gerichtet und den Epilogen des Lhrenholds in Hans Sächsischen 
Schauspielen vergleichbar^), betont den nationalen und kulturellen 
Beruf, für den der Meistergesang — so meint Sachs — vielleicht 
dereinst bestimmt sein möchte. Und wie prächtig trifft die Musik 
den Charakter des Milieus, von der imposanten Behäbigkeit 
des Meistersinger-Marsches bis zur humorvollen Parodie des 
Beckmesser-Ständchensh. Das ganze l6. Jahrhundert mit seinem 
Idealismus und seiner bürgerlichen Beschränktheit erscheint in 
den drei Ukten dieses Lustspiels, das zugleich eines der großen 
Kulturdramen unserer Literatur ist. 
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') Bulthaupt, Dramaturgie der Gper, 2. Ruft., 2. Bd. (Lpz. 1902, 
5. 193 f. 
z) Diese Auffassung von der Gemeinschaft der Meister als einer Zunft 
über den Zünften trat in den ersten Fassungen des Magnerschen Dramas 
noch deutlicher hervor: vgl. R. £D a g n e r, Entwürfe zu „Die Meisters, v. R.", 
„Tristan und Isolde", „parsifal", Lpz. >907, 5.93. 
3) s. Bulthaupt a. a. G. 5. 22l. 
4) ebenda 5. 222 u. ö.
	        
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