Full text: Zur Entwicklung und Bedeutung des deutschen Meistergesangs im 15. und 16. Jahrhundert

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bemerkbar gewesen waren, erblicken wir nur mehr öden Luch¬ 
stabenglauben, der den großen Fortschritt vom dogmatischen Christen¬ 
tum zur verinnerlichten persönlichen Erfahrung, „von Paulus 
zu Christus", wie ihn die Deformation in ihren besten Vertretern 
gezeitigt hatte, ebenso wenig ahnen läßt wie die rationalistischen 
und skeptischen Ideen oder gar den praktischen Ñnarchismus, den 
dasselbe äußerlich und innerlich aufgewühlte Zeitalter hervor¬ 
gebracht hatte'). 
Ñus der Leihe der nicht genauer datierbaren Meisterlieder des 
16. Jahrhunderts werden im folgenden nur diejenigen genannt 
werden, die in irgend einer Beziehung von der vurchschnittsnorm 
abweichen. Unter den religiösen Liedern der Berliner Handschrift, 
die sich nicht an einen bestimmten Bibeltext anschließen, ist vor 
allem ein inniges, in der ersten Hälfte sogar poetisch schönes 
Büßlied bemerkenswert, das eine Steigerung von verzagter Furcht 
vor dem Tode zu glaubensfreudiger Todeshoffnung in sich b'rgth. 
Ñuch an religiöser Gedankenlyrik in echter Lhoralform fehlte? nicht 
ganz"). Die moralischen Ñbschlüsse von Bibelparaphrasen sind 
hin und wieder ins Ñktuelle gewandt, so wenn die Obrigkeit einmal 
zur pflege der Witwen und Weisen aufgefordert') oder wenn 
gegen den Klerus polemisiert wird"). Ñm bedeutsamsten ist aber 
ohne Zweifel die zwei Strophen umfassende Moral eines Liedes, 
das die Spaltungen in der christlichen Welt beklagt und die Christen 
auffordert, sich nicht als Päpstliche, Schwenkselder, Calviuisten, 
Zwinglianer oder Wiedertäufer zu fühlen und jeden Ñndersge- 
sinnten zu verachten und zu bekämpfen, sondern vielmehr das 
Gemeinsame ihrer Konfession, die Religion Christi, zu betonen"). 
Ein einziges rein weltliches Gedicht, ein Liebeslied, findet 
sich in der Berliner Handschrift"), aber es ist jedenfalls 
das poetisch bei weitem wertvollste, ja beinahe das einzig wert¬ 
volle der ganzen Sammlung: ein ganz scklichtes Lied von fünf 
*) vgl. wh. viIthep, Auffassung u. Analyse des Menschen i. 15. u 
16. Iht.,Archiv f.Gesch.d. Philosophie IV 604 ff., V 357 ff., 480ff., VI 60ff.usw. 
*, B e r l in c r h a n d s ch r i f t 5. 97 ff. 
3) ebenda S. 262 ff. 
h 5-51 ff. 
°) S. 9. ff. 
6) S. 78 ff. 
7) S. 398 f.; Verfasser ist Hans Weidner.
	        
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