Full text: Zur Entwicklung und Bedeutung des deutschen Meistergesangs im 15. und 16. Jahrhundert

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Keiner Persönlichkeit und keinem Stande halt macht: Kaiser 
und Städte, Fürsten und Herren, Bauern, Uichter, Soldaten, die 
Weiber und die anmatzlichen Länger müssen sich seinen Tadel 
gefallen lassen. Hber wo Muskatblut trotz aller Kritik hoffnungs¬ 
freudig gewesen war, da ist Veheim verbitterter und verbissener 
Pessimist, stets unzufrieden und einseitig, stets ohne auch nur be¬ 
schränkte Anerkennung des Guten, ein Mensch, der keines frohen 
Uufblicks, selten nur eines lebhafteren Effekts fähig war. Noch 
mehr als bei Muskatblut hat bei ihm die Zcheltpoefie die scho¬ 
lastisch-theologische Dichtung, die Minnelieder und die Gedichte 
ohne Tendenz zurückgedrängt. Dabei zeigt sein Talent eine 
formelle Unausgeglichenheit, die ihn neben temperamentvollen 
und auch sprachlich durchaus lesbaren Gedichten die fadesten silben¬ 
zählenden Ueimereien, neben sangbarer Tonsührung in einigen 
seiner hauptmelodieen (gekrönte weise, Osterweise) die trockensten 
Uecitative schreiben ließ. 
Unharmonisch wie seine Dichtung ist auch der Charakter des 
Mannes. Ein schwacher Wille bei starkem Talent hat aus ihm 
fast im idealen Sinne eine problematische Natur gemacht. Die 
Notwendigkeit, fremden Herren zu dienen, auf der einen Seite, 
ein starker Freiheitsdrang und ein übertriebenes Selbstbewußtsein 
des Künstlers auf der andern haben den launischen, extrem ver¬ 
anlagten, unruhigen und nirgendsauf die Dauer befriedigten Dichter 
von Land zu Land, von Hof zu Hof, von Stadt zu Stadt ge¬ 
trieben. wieder und wieder hinderte ihn der Mangel jeglichen 
diplomatischen Geschicks daran, sich zu der höfischen Umgebung 
der von ihm gelobhudelten hohen Herren in ein erträgliches Ver¬ 
hältnis zu setzen, so daß er stets nach kurzer Zeit in die unerquick¬ 
lichsten Streitereiengeriet, bei denen er schließlich doch den kürzeren 
zog. Dabei hatte er sein ursprüngliches Weberhandwerk, und 
mit ihm seine persönliche Unabhängigkeit, freiwillig ausgegeben, 
da er sich in der Kunst zu hohem berufen fühlte. So ist sein 
Leben, das er einer heiligen Sache zu widmen gedachte, un¬ 
befriedigend und qualvoll verlausen, und das Tnde war Menschen¬ 
verachtung und humorlose Nörgelei, die den phantasielosen, aber 
an politischen und sozialen Dingen lebhaft Unteil nehmenden 
Mann, den zum Bohemien gewordenen Spießbürger, den Dichter, 
der selten nur herzlich und gemütvoll, eher einmal grotesk und
	        
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