Das Dasein der Kunst.
79
schwunden, und die Toten sind lebendig, gegenwärtig, sie sprechen
mit uns, wir hören ihre Stimme und vernehmen ihren Ton, der
in uns das gleiche Leiden erweckt, wie es in ihm tönt. Wenn das
Kunstwerk nicht Unterbrechungen noch Hindernisse findet, wenn
es das bleibt, als das wir es ansehen, so unterscheidet der Leser
nicht mehr zwischen sich und dem Verfasser; alles wird unver¬
wandt in dem Schauspiel betrachtet, das sich vor ihm entfaltet,
seine Persönlichkeit erwacht nur wie die des Zuschauers im
Theater, um den Personen des Dramas, das sich vor seinen Augen
abspielt, zuzustimmen oder sie abzulehnen. Die umgebende Welt
des täglichen Lebens ist verschwunden und mit ihr die toten und
die noch nicht geborenen Jahreszeiten; der Geist aber schwebt in
der ewigen unbewegten Gegenwart.
Mit einem Wort: wenn die Lektüre uns vor ein Kunstwerk in
seiner wirklichen Existenz stellt, so ist es, kommt sie ungestört zu
ihrem Ziele, als Kunstwerk genossen, aber es ist seiner geschicht¬
lichen Stellung entzogen. Und wenn es sich statt um ein lite¬
rarisches Werk um ein darstellendes oder musikalisches handelt,
so sieht man, wie mutatis mutandis das gleiche geschieht. Das
Werk, das wir kennen lernen, steht nicht irgendwo in der Zeit,
von uns getrennt, sondern es ist das, das wir fern von uns (und
auch von der von uns durchlebten wirklichen Erfahrung) suchen.
Haben wir es aber gefunden, so offenbart es sich uns und erhält
seinen Wert für uns als uns nahestehend, besser: als unseres und
als konstitutiv unserer gegenwärtigen Erfahrung. Tatsächlich sagt
man allgemein, das Leben einer Dichtung oder irgendeines künst¬
lerischen Erzeugnisses lebe in dem neu auf, der in Verbindung zu
ihm tritt. Das besagt nichts anderes, als daß die Dichtung vor
diesem zweiten Leben tot war, und daß das erste Leben sich nicht
unmittelbar, sondern nur durch dieses sein zweites offenbare, das
die einzige mögliche Erfahrung der Dichtung selbst ist.
5.
Vorurteile gegen den geschichtlichen
Subjektivismus.
Doch dieser Begriff ist seinerseits nicht ohne Schwierigkeiten
zu erfassen. Vor allem sind es zwei. In erster Linie scheint ein
extremer Subjektivismus sich von eben dem Begriff der geschicht¬
lichen Existenz des Faktums, das man erkennen will, abzuleiten,
und er scheint sich nicht auf das einzelne Faktum der Kunst,