78
Die Aktualität der Kunst.
suchungen, die die Kunst betreffen, und muß es sein. Wenn jemand
fragt, ob es eine Kunst als etwas Existierendes gäbe, um dann fest¬
zustellen, worin sie besteht, wird er dieser Kunst in ihrem gegen¬
wärtigen geistigen Leben, das mehr auf Verständnis der Kunst und
auf Philosophie als auf künstlerisches Schaffen gerichtet ist, nicht
begegnen. Die Zukunft wird ihm die Kunst nicht erschließen,
denn sie ist das Reich des Nicht-Bestehenden. Das Kunstwerk kann
also, auch wenn es eben erst vollendet ist, nur in der Vergangen¬
heit begriffen werden, denn nur seine Existenz in der Vergangen¬
heit rechtfertigt das Entstehen des Problems der Kunst.
Unzweifelhaft ist aber auch das: so groß die zeitliche Entfernung
zwischen uns, die wir lesen, und dem Dichter, der seine Dichtung
schrieb, ist, diese Entfernung ist vorhanden, erkennbar, vorstellbar,
meßbar, solange wir sagen, wir wollen diese Dichtung lesen, sie
aber tatsächlich noch nicht lesen. Während der Lektüre ist der
Abstand verschwunden: die Vergangenheit wird Gegenwart, eine
Gegenwart, die nicht weicht; jene „Luft ohne zeitliche Färbung“,
in der uns Dante so wundervoll die Vorhölle schildert, den Sitz
der Seelen, die, weil sie nie etwas taten, von dem zeitlichen Lauf
der menschlichen Geschehnisse, der alles ordnet, ausgeschlossen sind,
und jenen Limbus, der der Sitz der großen Geister ist, die mit
ihrer unwandelbaren Miene durch alle Jahrhunderte im Gedanken,
in der Geschichte und in der Kunst hervorragen. Während der Lek¬
türe wird jeder, der mit seiner ganzen Seele liest, wie man lesen
muß, um einen Schriftsteller zu verstehen, festgestellt haben, daß
jede Erinnerung an Zeit und an äußere Dinge vor dem Gegenstand
der Dichtung verschwindet: der Leser versenkt sich in die Welt
des Verfassers, in diese Welt, die vor Erschütterung bebt, wenn der
Verfasser ein Dichter ist, und er vergißt darüber jedes Ding
und alle die Menschen, die er leidenschaftlich liebt oder heftig
haßt und flieht. Es vergeht die Zeit, und der Leser merkt
es nicht; denn in der Welt, die die Welt des Geistes ist, gibt es keine
Zeit. Und die Toten können auferstehen und handeln, wir hören
ihnen zu, wenn sie uns ihre Schicksale erzählen; wir denken nicht
mehr daran, sie könnten sich (wie man später, nach beendeter oder
unterbrochener Lektüre, überlegen wird) auf vergangene Jahr¬
hunderte beziehen, in denen diese Menschen mit allen ihren
Schicksalen stürzten, so daß sie uns weder Mitleid noch Freude,
weder Sympathie noch Abneigung erweisen können, sind sie doch
in den ewigen Schatten des Nicht-Seienden eingetreten, das uns
niemals erschüttern kann. Nein, diese Jahrhunderte sind ver¬