Full text: Philosophie der Kunst

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Die Aktualität der Kunst. 
suchungen, die die Kunst betreffen, und muß es sein. Wenn jemand 
fragt, ob es eine Kunst als etwas Existierendes gäbe, um dann fest¬ 
zustellen, worin sie besteht, wird er dieser Kunst in ihrem gegen¬ 
wärtigen geistigen Leben, das mehr auf Verständnis der Kunst und 
auf Philosophie als auf künstlerisches Schaffen gerichtet ist, nicht 
begegnen. Die Zukunft wird ihm die Kunst nicht erschließen, 
denn sie ist das Reich des Nicht-Bestehenden. Das Kunstwerk kann 
also, auch wenn es eben erst vollendet ist, nur in der Vergangen¬ 
heit begriffen werden, denn nur seine Existenz in der Vergangen¬ 
heit rechtfertigt das Entstehen des Problems der Kunst. 
Unzweifelhaft ist aber auch das: so groß die zeitliche Entfernung 
zwischen uns, die wir lesen, und dem Dichter, der seine Dichtung 
schrieb, ist, diese Entfernung ist vorhanden, erkennbar, vorstellbar, 
meßbar, solange wir sagen, wir wollen diese Dichtung lesen, sie 
aber tatsächlich noch nicht lesen. Während der Lektüre ist der 
Abstand verschwunden: die Vergangenheit wird Gegenwart, eine 
Gegenwart, die nicht weicht; jene „Luft ohne zeitliche Färbung“, 
in der uns Dante so wundervoll die Vorhölle schildert, den Sitz 
der Seelen, die, weil sie nie etwas taten, von dem zeitlichen Lauf 
der menschlichen Geschehnisse, der alles ordnet, ausgeschlossen sind, 
und jenen Limbus, der der Sitz der großen Geister ist, die mit 
ihrer unwandelbaren Miene durch alle Jahrhunderte im Gedanken, 
in der Geschichte und in der Kunst hervorragen. Während der Lek¬ 
türe wird jeder, der mit seiner ganzen Seele liest, wie man lesen 
muß, um einen Schriftsteller zu verstehen, festgestellt haben, daß 
jede Erinnerung an Zeit und an äußere Dinge vor dem Gegenstand 
der Dichtung verschwindet: der Leser versenkt sich in die Welt 
des Verfassers, in diese Welt, die vor Erschütterung bebt, wenn der 
Verfasser ein Dichter ist, und er vergißt darüber jedes Ding 
und alle die Menschen, die er leidenschaftlich liebt oder heftig 
haßt und flieht. Es vergeht die Zeit, und der Leser merkt 
es nicht; denn in der Welt, die die Welt des Geistes ist, gibt es keine 
Zeit. Und die Toten können auferstehen und handeln, wir hören 
ihnen zu, wenn sie uns ihre Schicksale erzählen; wir denken nicht 
mehr daran, sie könnten sich (wie man später, nach beendeter oder 
unterbrochener Lektüre, überlegen wird) auf vergangene Jahr¬ 
hunderte beziehen, in denen diese Menschen mit allen ihren 
Schicksalen stürzten, so daß sie uns weder Mitleid noch Freude, 
weder Sympathie noch Abneigung erweisen können, sind sie doch 
in den ewigen Schatten des Nicht-Seienden eingetreten, das uns 
niemals erschüttern kann. Nein, diese Jahrhunderte sind ver¬
	        
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