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Die Aktualität der Kunst.
Und wer sich vorher nicht in den Besitz einer ähnlichen, wenn
auch abweichenden, sondern eben gerade in den Besitz der Sprache
dieses Dichtwerkes setzen wollte, um sich seine Lektüre zu ermög¬
lichen, würde ewig auf seiner Schwelle bleiben, ohne jemals in das
Innere eindringen zu können.
Wer Dantes Dichtung und seine Sprache kennen lernen will,
liest sein Werk. Er liest es und lernt es kennen; er sieht jene
Dichtung, die er suchte, und er versteht die Sprache, in der sie sich
darstellt; aber versteht er sie, sieht er die Dichtung sogleich, von der
ersten Seite an, von der dritten Terzine, vom ersten Wort an? Offen¬
kundig nein. Wer mit der Lektüre eines Buches beginnt, dem muß
man vom ersten Wort an während des ganzen Verlaufs der Lektüre
sagen: respice finem. Die Bedeutung des Teiles liegt im Ganzen,
und bevor man das Ganze nicht kennen gelernt hat, kann man nicht
sagen, man habe etwas verstanden. Und wenn in jedem Wort, das
im Text gegeben ist, wenn in jeder Terzine das Motiv des ganzen
Werkes anklingt, wenn jedes Wort gemäß dem Akzent, in dem man
es (auch gedanklich) ausspricht, diese oder jene Bedeutung hat, —
solange man nicht das ganze Werk gelesen und verstanden hat,
kann man nicht ein einziges Wort verstehen und (mit dem ihm
zukommenden Akzent) lesen. Das alles ist sehr einfach und offen¬
sichtlich, wenn man auch gewöhnlich achtlos daran vorübergeht und
sich nur zufällig und vielleicht niemals mit der Strenge und Absolut¬
heit daran erinnert, daß wir in den ganzen hundert Gesängen der
Dichtung wie in allen Kapiteln eines einheitlichen Romans erkennen
müssen: wir haben es nur mit einem einzigen Worte zu tun.
Ein Wort. Wer es Silbe für Silbe buchstabiert, ohne die Silben
zu verstehen, kann es nicht begreifen. Analyse ohne Synthese: das
ist der Tod des Geistes.1) Das Wort ist eines, und durch seine
absolute Einheit ist es unendlich. Man dringt nicht von außen in
das Wort hinein, denn in seiner Einheit hat es nur eine Beziehung
zu sich selbst. Dante, mit Dante erklärt, wie der gute Pater
Giuliani sagte. Jedes Wort, sei es ein Wort Dantes oder das Wort,
das von den Lippen des kleinen Kindes kommt, hat seine voll¬
ständige Bedeutung in sich selbst. Es ist in sich so vollendet, daß
es von ihm keinen Übergang zu etwas anderem gibt. Wenn also
der Dichter „Ende“ an den Schluß seiner letzten Seite schreibt, so
löst er sich von seinen dichterischen Gedanken los; er lebt weiter,
aber er setzt seine Äußerung nicht fort, die nicht unterbrochen,
sondern wie ein lebender Organismus erfüllt und in sich ge¬
schlossen ist.
) Vgl. „Sistema di logica“ 2 I 187/88.