Das Dasein der Kunst.
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sicht, siili auf die annähernde Mitte der Sprechenden und daher
schließlich auf die einzelnen Sprechenden zu beziehen: Schriftsteller,
die sprachen, oder Lebende und Gegenwärtige, die sprechen. Und
jeder, der spricht (muß es gesagt werden?) spricht, wenn er spricht;
und wenn er schläft oder beim Essen ist, spricht er nicht. Denn das
Wort ist nur in den Augenblicken auf seinen Lippen, in denen er
spricht, und wenn man es erkennen will, muß man es eben in diesen
Augenblicken aufnehmen. Es genügt also nicht, sich an das Indivi¬
duum zu wenden, um das lebendige Wort zu erhalten; man muß
sich an das Individuum während des Aktes selbst wenden, in dem
es seine Seele und seinen Gedanken zum Ausdruck bringt. Nicht
das Volk, das für sich, ohne das Individuum, ein ens rationis ist,
und auch nicht die Schriftsteller im allgemeinen, die als eine
mittlere Persönlichkeit auch ihrerseits eine Abstraktion sind, und
auch nicht ein bestimmter Schriftsteller, den man in seiner Ge¬
samtheit betrachtet, von der Geburt bis zum Tode, von dem
Augenblick an, da er seine ersten Worte stammelt, bis zu dem
Augenblick, wo er sein letztes Gebet spricht. Aber der Schrift¬
steller ist in seinen Schriften zu betrachten, die untereinander ver¬
schieden sind, und deren jedes aus Teilen zusammengesetzt ist, die
untereinander verschieden sind; ein und dasselbe Wort desselben
Schriftstellers hat daher nicht nur in verschiedenen Schriften,
sondern auch an den verschiedenen Stellen des gleichen Werkes
verschiedene Bedeutung.
Kurz, es ist ein schweres und langwieriges, nahezu unerschöpf¬
liches Unternehmen, eine Sprache zu lernen und schließlich zu
kennen. Und es ist eine trügerische Illusion, wenn jemand, der z. B.
die „Göttliche Komödie“ in die Hand nähme, überzeugt wäre, er
kenne auch schon ihre Sprache, wie er das Alphabet kennt, in dem
sie geschrieben und gedruckt ist. Das ist ein Hilfsmittel, das man,
hat man einmal gelernt, es zu handhaben, vielfach anwenden kann.
Anders die Sprache: sie ist kein Hilfsmittel, das für sich dasteht,
und das man erlernen kann, um es vor den Büchern und ohne sie
und ohne die lebendigen Reden zu verstehen, zu deren Verständ¬
nis sie uns dienen sollte.
Die Sprache Dantes ist die im allgemeinen Sinne italienische,
aber in einem besondern Sinne die Dantesche Sprache. Sie ent¬
wickelt sich allmählich in seinen Werken, sie ändert sich und reift,
zusammen mit dem Geist, dessen Ausdrude sie ist. Man kann also
nur in der „Komödie“ selbst die Sprache finden, in der sie ge¬
schrieben wurde.