74
Die Aktualität der Kunst.
und dann eine Wand, und draußen vor der Tür der säulentragende
Kreuzgang und in seinem Innern ein Garten, und hier sind Bäume,
Blumen, schwarze Erde usw. Oder sie haben in unbestimmten Um¬
rissen eine gewisse Erinnerung, die unklar in ihren Gedanken auf¬
taucht, sich der irgendwann einmal gelesenen Dichtung Dantes
zuzuwenden. Oder sie haben eine lebendige Vorstellung und eine
gefühlsmäßige Unruhe im Sinn, durch die ihr Herz von der Lektüre
irgendeiner Episode erschüttert wurde. Oder gar den ganzen Auf¬
bau aller drei Partien, die mit Schatten und dramatischen Vor¬
gängen, mit Leiden, Betrachtungen und Ermahnungen übersät sind:
den ganzen Inhalt in einer wie notwendig sich ergebenden Ver¬
kürzung, wo der eigene Blickpunkt und das subjektive Spiel von
Licht und Schatten erhellt, was wesentliches Ergebnis ist und im
Hintergrund einige Elemente als kaum beachtet zurückläßt, die
bei der Lektüre der Dichtung ihren notwendigen Sinn und daher
ihre wesentliche Bedeutung haben. Wenn man mit dem Gegen¬
stand des Gedankens, der allen eigen ist, vergleicht, was als Er¬
gebnis der aufmerksamen und klugen Lektüre der Dichtung sich
ergeben kann, so besteht kein Zweifel, daß sich eine tiefe Ab¬
weichung offenbaren wird, der ähnlich, die zwischen einem leben¬
digen Menschen und seinem Bild oder einer Rede besteht, die
ihn beleuchtet oder ihn uns irgendwie vor Augen führt. Bilder und
Reden, die entweder auf eben diesen Menschen aus Fleisch und
Blut zurückführen, oder die nichts in dem Sinne besagen, zu dem
man sich ihrer bedient. Denn die Wirklichkeit besteht nicht in
Bildern noch in Worten, sondern in den Menschen, auf die sie sich
beziehen, und von dem Bilder und Worte Zeichen, nicht aber etwas
ihm Gleichwertiges sein können.
Eine Dichtung hat ihren Wert nur in sich selbst. Und nicht
anders kann man sie gegenwärtig haben und ihr Dasein verstehen,
als indem man sie liest. Ein leichtes Unternehmen für den, der das
ABC gelernt hat und die Sprache kennt; aber wie alle andern
Unternehmungen leicht nur ihrem Anscheine nach. Zunächst sagt
es sich schnell: die Sprache kennen. Aber die Sprache ist wie die
Kunst: sie weilt nicht im blauen Dunst, im Himmel der Allgemein¬
begriffe, mit allen ihren Worten, deren jedes stets identisch für den
ist, wer immer es angewendet. Das Wort, die Sprache sind im Munde
des Sprechenden. Man sagt zwar: im Munde des Volkes. Aber man
weiß, daß ein Volk, das in seiner Gesamtheit spricht, nicht zu be¬
greifen ist. Um ihm zuzuhören, bedarf es eines Mannes, der für es
spricht. Wenn man „Volk“ sagt, so hat man in Wirklichkeit die Ab¬