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Die Aktualität der Kunst.
und rein hinweisende Merkmale gibt, von denen man ausgehen,
bei denen man sich aber nur aufhalten kann, wenn man sie in einen
unmittelbaren Zusammenhang mit der wirklichen Dichtung stellt,
die die Italiener hervorgebracht haben. Solange man die Merkmale
des „neuen Stils“ beschreibt oder eine Darstellung der Kunst der
Renaissance im allgemeinen gibt oder beim 17. Jahrhundert und
dem Barock verweilt, ist man noch nicht Antlitz oder Seele eines
einzigen Dichters begegnet, haben wir noch nicht eine einzige
Dichtung kennen gelernt. Wir werden nicht in der Lage sein zu
sagen: das hier ist Kunst. Wir werden so das ganze Universum
einschließlich der Kunst beschreiben können, ohne noch genau
zu wissen, oh es die Kunst gibt, von der man immer als von
einem konstitutiven Element unseres Universums gesprochen hat.
Wir werden unterstellen, daß es sie gibt; wir werden uns davon
überzeugen, daß sie da sein muß. Aber wir sind noch nicht dazu
gelangt, behaupten zu können, daß sie tatsächlich da sei. Und
da das Problem des Wesens engstens mit dem des Daseins ver¬
knüpft ist, werden wir noch nicht in der Lage sein zu sagen, was
diese Kunst sei, deren Dasein wir unterstellen. Wir werden auf
dem Leeren bauen, auf dem sich, um die Wahrheit zu sagen, oft
die Philosophen begnügt haben, ihre Ästhetiken zu errichten.
Um die Fülle und Sicherheit des Daseienden zu erfassen, darf
die Geschichte nicht als Begriff oder als ein Gewebe von all¬
gemeinen Begriffen betrachtet werden; sie darf sich nicht da¬
mit zufrieden geben, aus der Ferne darzustellen; sie muß sich
dem Konkreten, dem Individuellen, dem Tatsächlichen, dem
Sicheren, ich sage: dem Existierenden anschließen. Ohne Dichter
gibt es keine Dichtung; das bedeutet nicht, daß daraus die No¬
minalisten alle Berechtigung für ihre Auffassung ableiten dürfen.
Nein, es gibt auch das Universelle; es gibt vielmehr, wenn man
richtig denkt, nichts anderes. Aber auch das Allgemeine, das nicht
flatus vocis ist, hat in seinen besonderen Individuen seine
Konkretheit. Und die Dichter wären nichts, wären sie nicht alle
Dichtung, wodurch sie ihre Geltung haben und unsterblich sind.
Der Dichter existiert also. Er ist aber nicht jener bestimmte
Mensch, der mit allgemeinen Merkmalen individualisiert ist
und sich daher in irgendeinen Gattungsbegriff auflöst, der noch
weniger als die abstrakte Poesie existiert. Und man beachte
wohl: wie die des Standesamtes, so sind alle Charakterisierungen
einer Biographie nicht mehr und nicht weniger Allgemeinheiten,
die man bis zur Unendlichkeit häufen kann, ohne daß sie mir