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Die Attribute der Kunst.
Grund jeder Vielheit die Einheit wahrnehmen, die sie erhält und
ermöglicht, wenn wir uns dieser Einheit, die in uns ist, bemäch¬
tigen — dann verdorrt die Vielfalt nicht und zerstreut sich nicht
wie disiecta membra des ehemals lebendigen Körpers, sondern sie
vereinigt sich und wird kräftig und lebensvoll an dieser Einheit,
die ihre Seele ist, und die Wüste bevölkert sich, und der Ozean
nimmt die unablässige Bewegung seiner Wasser wieder auf, und
das Leben beginnt wieder, aus dem Innern der Abgründe an die
Oberfläche zu sprudeln. Die „toten Epochen“ des Dichters erheben
sich neu im Gedanken der Lebenden, der, wie er sein Selbstbewußt¬
sein erwirbt, Geschichte wird. Und in der Geschichte organisiert
sich die Vielfalt durch den Gedanken, der sie beseelt und sie ganz
mit sich erfüllt.
Wenn man auf dieses Selbst-Bewußtsein blickt, das Philo¬
sophie oder Geschichte ist, und aus dem sich die ganze Wirklich¬
keit als Gedanke verwirklicht, so kann man an dieser sieghaften
Einheit lernen, was Ewigkeit oder Unsterblichkeit ist. Diese Ein¬
heit triumphiert über jede Vielfalt, indem sie sie zur Einheit
macht, und daher über Zeit und Raum, zwischen dessen Maschen
alle sterblichen Dinge fallen. Denn der Gedanke als Akt in seinem
Wert als Gedanke fällt nicht und kann nicht fallen. Auch die Ge¬
schichten und die Philosophien gehen gewiß vorüber, und was Ge¬
danke in seinem Sich-verwirklichen war, wird Gegenstand eines
anderen Gedankens, der sich verwirklicht, und wird überwunden:
wird Gegenstand der Geschichte, nicht der Geschichtsschreibung.
Was nie vorübergeht, ist die Geschichte, die in jeder Geschichte,
die Philosophie, die in jeder Philosophie liegt: jenes Philosophieren,
in dem das Leben, die Aktualität jeder Philosophie ist. Damit eine
Philosophie tatsächlich untergeht, muß das Philosophieren es
sagen, das identisch mit dem Philosophieren ist, von dem jene
Philosophie hervorgebracht wurde: jenes Philosophieren ist also
immer lebendig. Die Einheit des Gedankens ist immanent und
geht nicht unter: ihre mannigfachen Formen gehen vorüber, soweit
sie mannigfach sind; sie bleiben und können nicht vorübergehen,
soweit auf dem Grunde jeder dieser Formen die Einheit ist, die
in ihrem Innern lebt.
Das eine ist das Leben des einzelnen Individuums, dessen Ge¬
danke innerhalb des allgemeinen Gedankens begrenzt ist wie sein
Körper innerhalb der materiellen Natur; das andere ist das
Leben des universellen, konkreten, unendlichen Individuums, dessen
Körper die Natur selbst als Ganzes ist, das im Subjekt des geisti¬