Die Kunst als Befreierin.
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es überlebt, und es ist Seele dieses Lebens, das die Synthese ist.
Die Freude der Kunst kann man gleichmäßig ausbreiten, und
in der Ruhe des Gedankens dehnt und löst sie sich, des Ge¬
dankens, der nie so streng ist, um nicht in seinem Inneren von
dem feurigen Geheimnis der Freude durchströmt und belebt zu
werden, aus dem das Subjekt zum Besitz seiner selbst gelangt, in¬
dem es in der Wahrheit seines Besitzes sicher ist. Es kann der
denkende Gedanke von sich selbst abstrahieren und ideell seinen
Blick auf den abstrakten Logos richten; es wird aber stets eben der
abstrakte Logos sein, in dem die Abstraktion von sich nicht Ab¬
wesenheit, sondern Gegenwart und Beweis ihrer selbst und der
eigenen Macht ist.
Das ganze Leben, die ganze Wirklichkeit ist der mühevolle
und schmerzhafte Prozeß des Gedankens, ist Aktualität des
Geistes. Der Geist aber ist für den, der ihn recht versteht, der
Geist der Natur. Sie ist immer da, um jede Mühe zu leiten, jedes
Herz zu beseelen, jedes untätige Sein aus der Ruhe aufzurütteln
und es seiner Schwere zu entheben, es zum Leben zu ziehen, das
Bewegung und durch die Bewegung Übergang vom Nichtsein zum
Sein ist. Eine Lanze, die ewig verwundet und wieder heilt.
5.
Der Trost der Religion.
Als ernster Einwand gegen diesen Begriff der kathartischen
Funktion der Kunst als ihrer wesentlichen Funktion kann nicht
die alte und immer wahre Beobachtung angesehen werden, daß
auch die Religion Trösterin und Neuschöpferin der geistigen
Kräfte des Menschen ist. Nur muß man, um sich von der leichten
Versöhnbarkeit einer solchen Beobachtung mit der dargestellten
Lehre Rechenschaft abzulegen, in erster Linie die Bedeutung des
Gegensatzes klären, in dem nach unserer Theorie Kunst und
Religion zueinander stehen. Ein Gegensatz, der seinerseits von den
unzähligen Tatsachen widerlegt scheinen könnte, in denen der
Inhalt der Kunst vom religiösen Glauben bestimmt wird. Tatsachen,
die überaus leicht festzuslellen und dem allgemeinen Verständnis
zugänglich zu machen sind. Und es ist daher kein Wunder, daß sie
gewöhnlich als unwiderlegliche Beweisgründe von den allzu leicht¬
gläubigen Kritikern des Begriffs des „Atheismus“ der Kunst ins
Feld geführt werden, der als Gegenbegriff zu dem Begriff von dem
nicht ästhetischen Charakter der Religion aufgestellt wird.