Die Kunst als Befreierin.
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deutlich wahrgenommen hatte. Jedenfalls gehört in seinem Ge¬
danken die Katharsis zur Tragödie, und er gelangte nicht zu der
Annahme, sie könnte sich im komischen Drama oder in irgend¬
einer anderen technischen Form der Dichtung wiederholen. Denn
er vermutete nicht, was für uns klar ist — daß Schmerz und Freude
(oder Katharsis) nicht der Fabel und der Sonderstruktur des Ge¬
dankens angehören, in denen das Gefühl sich äußert, mit einem
Wort der Technik, die die Tragödie von jeder anderen Art Dich¬
tung unterscheidet, sondern dem Gefühl. Der Schmerz der Tra¬
gödie Hegt für Aristoteles in dem schmerzhaften Geschehen, das
hier zur Darstellung gelangt; für uns in dem Gefühl, das sich in die
Darstellung dieses Geschehens ergießt und in ihr seinen Weg
nimmt.
Wenn man aber den Schmerz vom Objekt auf das Subjekt zu¬
rückzieht, dann muß man anerkennen, daß dieser tragische Charak¬
ter, der sich in bestimmten Formen des Dichtens äußerte und dem
man die Katharsis zuschrieb, jedem Dichten als Wiedereroberung der
reinen Subjektivität gemeinsam ist. Diese ist zwar Freude; aber
Freude, die sich in dem Gedanken, in dem sie sich darstellt, auf¬
hebt, und daher ist sie Schmerz. Und man erobert sie neu und be¬
sitzt sie wahrhaft nur in der Rüdekehr des Subjekts zu sich selbst,
im Kreislauf seines rhythmischen Prozesses.
Der Inhalt der Tragödie ist bereits ganz mit dem Gefühl eins,
wenn das Gefühl, das dem Dichter seine Tragödie eingibt, da ist:
es ist in sie verschmolzen und von ihr aufgesogen. Und das Gefühl
ist Freude, wenn es auch in seiner Eigenart von dem Geschehen
bestimmt wird, das Schmerz erzeugte und wieder erzeugen wird:
Schmerz, weil es den Menschen und die Menschheit selbst, die
diejenige des Dichters ist, in ihrer Begrenzung und Bedrückung
zeigt. Von dieser Freude nimmt man denkend seinen Ausgang,
und jeder Gedanke ist Mühe, Anstrengung, Schweiß der Stirn und
Aufzehrung des ursprünglichen und natürlichen Lehens, das den In¬
halt des Subjekts bildet. Er ist Preisgabe und Selbstopfer (multum
sudavit et alsit). Mag man mit diesem Gedanken eine freundliche
oder feindliche Wirklichkeit denken, eine heitere oder tragische
Welt, eine Welt, die im Denkakt selbst uns verspricht, unser Leben
zu begünstigen und unsere Freude zu nähren, oder uns Krieg an¬
droht, der unsere Freiheit und damit unser Sein zerstört — der
Gedanke ist immer da und mit ihm Mühe und Schmerz. Wenn
der Gedanke uns für einen Augenblick einen entzückenden Garten
zeigt — er zögert nicht, uns zu enthüllen, daß jede Blume, die