Genie, Geschmack, Kritik.
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Wert in sich, der sich im Werk des Geistes, als einfaches Kunst¬
werk verstanden, verflüchtigt und auflöst.
Aber wenn er auch ausgelöscht wird, so ist damit nicht gesagt,
daß er nicht in Rechnung zu stellen sei; und einige Folgerungen,
die in der neuesten kunsthistorischen Literatur vom Begriff der
(schlecht verstandenen) Individualität der Kunst abgeleitet wurden,
sind gewaltige Irrtümer, von denen man die Seele befreien
muß. Nach der Lehre, auf die wir hier anspielen, hat die Kunst¬
geschichte nicht Einheit, sondern sie zersplittert sich in die un¬
zähligen lebenden Einzelwesen, in die einzelnen Kunstwerke,
deren jedes eine in sich geschlossene Individualität ohne Ver¬
bindung mit irgendeiner anderen ist. Da ist Dante, Ariost,
Leopardi, nicht aber die italienische Literatur; da ist Raffael,
Michelangelo und Tizian, nicht aber die italienische Malerei des
Cinquecento usw. Die wissenschaftliche Form einer Kunstgeschichte,
wie diese Ästhetik sie versteht, ist die der Versuche, der Medaillen,
der Porträts und der Monographien. Das Verbindungsgewebe
dieser Spezialabhandlungen ist in den üblichen Geschichten der
Literatur, der Malerei usw. äußerlich und heterogen: es ist nicht
Kunst-, sondern Kulturgeschichte (genauer müßte man sagen Ge¬
schichte des Gedankens oder der Philosophie).
In dieser auflösenden und zerstörenden Analyse ist auch nicht
Platz für den Künstler, sondern nur für die Reihe der künst¬
lerischen Probleme, die er sich in seinem Leben stellte und die er
in seinen verschiedenen Werken zu lösen unternahm. Und auch
das einzelne Werk rettet man so nicht in seiner Unversehrtheit.
Die „Göttliche Komödie“? Auch sie muß man in ihre Bestandteile
zergliedern: da ist Dichtung und da nicht, da ist Allegorie, System,
Theologie, Philosophie, praktische Interessen, und ich weiß nicht,
was noch alles.
Vor allem ist die Individualität nicht Abgesondertheit. Die
Individualität der Kunst ist nicht die Individualität des Selbst-
Bewußtseins, sondern sein Prinzip: und sie schließt die Univer¬
salität nicht aus, die sich im Gedanken äußert oder vielmehr
sein Wesen, das Unendlichkeit ist, enthält. Deshalb gibt es für die
Kunst genau wie für die Philosophie nichts, was außer ihr ist:
alles ist Kunst, soweit es Gefühl ist. Und alles strahlt deshalb
in jedem Kunstwerk wider.
In zweiter Linie ist Kunst als reine und abstrakte Kunst, als
reine ideale Subjektivität, nichts Gegenwärtiges, das man erfassen
und als Gegenstand der Kritik oder der Geschichte behandeln