Der menschliche Charakter der Kunst.
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sind die gleichen Begriffe, auf Grund deren er während der Auf¬
führung sagen wird, er sei zufriedengestellt oder in seiner Er¬
wartung enttäuscht, auf Grund deren er zustimmt oder protestiert
und in der gleichen Weise, wenn auch mit Fehlern und Mängeln,
seine Kritik übt wie der angesehenste Kritiker, der vielleicht sein
System im Kopf hat.
Das Bewußtsein der Kunst ist ähnlich dem Bewußtsein des sitt¬
lichen Lebens, weil eines wie das andere das Bewußtsein von
immanenten Aktivitäten des menschlichen Geistes ist. Hinsichtlich
der Moral sieht jeder, daß jeder Mensch in seiner geistigen Natur
so eingerichtet ist, um mehr oder weniger die eigene Haltung nach
sittlichen Normen zu lenken und so durch sein eigenes Tun eine
eigene moralische Welt zu errichten, die gemeinsam mit der aller
andern Menschen die moralische Welt gestaltet, wie sie sich in der
Geschichte fortgesetzt verwirklicht; hierfür ist dem Menschen ein
sogenannter moralischer Sinn verliehen, der ihn, wenn auch nicht
ohne Irrtiimer und Unvollkommenheiten — die nur die Ent¬
wicklung der Moralität ganz allmählich beseitigen kann — das Gute
vom Bösen unterscheiden läßt. Hierzu bedarf es eines bestimmten
Unterscheidungsvermögens und einer Anzahl sittlicher Begriffe, auf
denen jede philosophische Betrachtung aufbauen muß, um sie
anderen Grundbegriffen, die sie ebenfalls im menschlichen Geiste
findet, gleichzuordnen; doch sie könnte nicht auf diesen Moral¬
begriffen aufbauen, wenn diese nicht schon in nuce gegeben wären
und gegenüber jeder neuen Betrachtung als Norm und Abgrenzung
des Gebietes da wären, innerhalb dessen das Denken, wenn es nicht
irren will, seinen Ort hat.
Dieses allgemeine und grundlegende ästhetische und sittliche
Bewußtsein nennt man Sinn oder Empfindung, gleichsam unmittel¬
bare Erkenntnis und Ausgangspunkt der erkenntnismäßigen Über¬
legung. Aber es ist nicht eigentlich Sinn oder Empfindung, und es
ist nicht unmittelbar, wie es gegenüber den weiteren Stufen der
begrifflichen Durchdringung erscheint, zu denen es gelangen kann.
Hinsichtlich dieser letzten Möglichkeiten gibt es keine Überlegung, so
genau und wissenschaftlich gefolgert und tief sie auch sei, die nicht
ihrer Natur nach, wenn sie nicht ins Nichts fallen soll (was nicht
möglich ist) dazu bestimmt wäre, Gegenstand eindringlicheren Nach¬
denkens zu werden, um sie besser zu klären, sie gegebenenfalls ab¬
zuändern und zu bessern oder sie mit neuen Gründen zu bestätigen
und hierdurch ihr eine neue Gestalt zu verleihen. Doch schon in
dem, was in dem allgemeinen Bewußtsein der Menschen, die noch
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