Full text: Philosophie der Kunst

Genie, Geschmack, Kritik. 
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best vorbereitete und umsichtige Weisheit des Gelehrten. Da gibt 
es den jungen Wissenschaftler, der in sogenannter Intuition mit 
einem Male einen großen Schritt in der Erforschung des Wahren 
vorwärts tut, und dann gibt es den alten Gelehrten, der die ent¬ 
deckten Tatsachen mit der größten Belesenheit und Klarheit 
kommentiert und beleuchtet, die man sich wünschen kann. 
Aber so verstanden, ist das Genie, falls man sich nicht mit 
empirischen Beobachtungen zufrieden gibt, nicht mehr das Privileg 
einiger bevorzugter Geister. Das Genie gehört allen an, wenn es 
gleich scheinen mag, daß viele es verfehlen und es unter einer 
schlechten Bildung, unter dem unklaren Bestreben von Gedanken 
und Werken begraben, die ihrem subjektiven Vermögen nicht an¬ 
gemessen und nicht kongruent sind: sie verlieren sich in Ideen, die 
nicht ihre Ideen sind, und werfen sich praktisch in eine Welt, die 
ebensowenig die ihre ist. Vom geistigen Leben ausgeschlossen, 
verschwenden sie ihre Talente, die sie doch auch von Gott empfan¬ 
gen haben. Sie verschwenden sie, wohlverstanden, weil sie sie nicht 
so anzuwenden wissen, wie sie es hätten tun können. Aber not¬ 
wendig leben auch sie von diesen Talenten, und das Wenige, das sie 
in ihrem Leben umfassen, schöpfen sie aus ihrem subjektiven Ver¬ 
mögen, aus der geistigen Synthese, zu deren Verwirklichung sie in 
der Lage sind: denn auch die schlechten Dichter, die verunglückten 
Maler, die verfehlten Philosophen und alle, die an dem, was sie 
darstellen wollten, gescheitert sind, sind doch Menschen gewesen, 
die ihr eigenes, wenn auch bescheidenes Leben gelebt haben. Und 
Leben ist Denken, und wer Denken sagt, sagt vor allem Subjekt, 
sagt deshalb — wenn auch in kleiner oder kleinster Dosis — 
Genialität. 
3. 
Das Genie ist Natur. 
Das Genie, das zur Verwirklichung, zum Erfolg gelangt, das nicht 
irrt und somit schöpferisch ist, ist die gleiche, nie von dem 
falschen Wissen, das halbes Wissen ist, abgelenkte Natur, von 
jenem halben Wissen, das die Menschen so oft irre gehen läßt. 
Es ist die Natur, die nicht von außen schafft, wie der Mensch, der 
sich mit seiner Wissenschaft (der halben Wissenschaft) der 
Täuschung darüber hingibt, er könne von außen ins Innere des 
Lebendigen eindringen, er könne sehen, wie es gemacht ist, es 
(einmal wenigstens!) selbst noch einmal machen und künstlich den
	        
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