Genie, Geschmack, Kritik.
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wahres Wesen ist. Der Dichter, der sie naturalistisch beschreibt,
bleibt im Äußeren, an der Oberfläche: aber die Natur, wie Goethe
sagte, hat weder Kern noch Schale. Der Dichter, der sie in sich
fühlt, kann ihre Stimme im Wind, im Regen, im Donner des
Himmels, im nächtlichen Hundegebell hören; er kann ihr Leben
im Sonnenaufgang und im Sonnenuntergang, in der grenzen¬
losen Wüste und in den grünen Wiesen, in der unendlichen Weite
des Ozeans und den unerreichbaren Gipfeln der schneebedeckten
Berge, in den Abgründen der Erde und im erleuchteten Himmels¬
gewölbe sehen. Wo sein Gedanke sich hingibt und in seine Syn¬
these das Schwingen der Seele aufnimmt, da bricht diese Seele in
seinen Gedanken selbst mit der Kraft, mit dem Feuer, mit der
Lebendigkeit dieser Seele ein: und da ist Schönheit.
II.
Genie, Geschmack, Kritik.
1.
Das Genie.
Unsere Theorie der schonen Natur bringt Klarheit in eine
dunkle Idee, von der, obzwar dunkel, der gewöhnliche Gedanke
wie die Philosophie nie haben absehen können. Seit Plato durch
das eine oder andere Wort ausgedrückt, war sie dem kritischen
und historischen Bewußtsein bei der Bewertung des künstlerischen
und überhaupt des menschlichen Geistes stets gegenwärtig; seit
dem 18. Jahrhundert wird sie „Genie“ genannt. Es ist von Intelli¬
genz oder Verstand, die beide nicht als Sonderfunktionen des Geistes,
sondern als hohes Leistungsvermögen seiner Gesamtfunktion
begriffen werden, grundlegend verschieden. Und lange Zeit hin¬
durch war es an der Tagesordnung der psychologischen Unter¬
suchungen des vergangenen Jahrhunderts, das Merkmal zu finden,
kraft dessen man recht eigentlich den Verstand vom Genie unter¬
scheiden könnte; doch nie gelangte man zu einem Ergebnis von
wissenschaftlichem Charakter, das sich auf bestimmte Prinzipien
begründet hätte und zuverlässig erörtert und abgeleitet ge¬
wesen wäre.
Das Genie ist denen zuzuerkennen, deren Name, nach Dantes
Worten, am längsten ehrt und dauert: den Dichtern. Sie sind,
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