Full text: Philosophie der Kunst

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Die Attribute der Kunst. 
Darstellung des ganzen Menschen gelangen, von dem jenes Stück 
ein Teil ist; denn so stellt sich die menschliche Gestalt in ihrer 
Geschlossenheit als ein Spiegel vor uns, aus dem unser Gefühl 
zurückstrahlt. 
So ist ein einzelner Teil der Natur nur ein losgelöster Körper¬ 
teil, eine bestimmte materielle Masse, die kein Leben besitzt und 
uns keine gefühlsmäßige Schwingung mitteilen kann. Aber man darf 
diese Besonderheit des Besonderen, des menschlichen Körpers oder 
des Körpers der Natur auch nicht materiell verstehen. Dann wäre 
kein Kunstwerk möglich; denn in kein Kunstwerk kann man alles 
legen. Aber das Besondere besitzt nicht in sich selbst seine Be¬ 
sonderheit; es empfängt sie von dem Geist, der es schafft. Wenn 
ich die Hand eines lebendigen und gesunden Menschen schüttle, 
der meinen Händedruck erwidert, so ist, was ich empfinde, etwas, 
was ich in dieser seiner Hand empfinde, dock nur insoweit, wie 
in seiner Hand seine ganze Persönlichkeit, seine Seele liegt. Wenn 
ich hingegen die Hand eines Paralytikers schüttle, so empfinde ich, 
was ich vorher empfunden habe, nicht mehr; denn es ist eine tote 
Hand, der die Seele fehlt: als wäre es eine von der Persönlichkeit, 
die sie an sich trägt, losgelöste Hand. Die Unendlichkeit oder 
Totalität liegt also nicht in dem materiell betrachteten Objekt, 
wohl aber in der Seele, die in ihm ist. Die Unendlichkeit gehört 
also dem Gefühl an. Die Hand kann auch abgeschnitten sein, und 
doch sehen wir sie wie die lebendige und warme Hand, die wir 
geliebt haben und immer lieben werden. Ein Bildchen kann uns 
ein Stilleben vorstellen: aber diese Früchte, obschon sie von dem 
Baum, an dem sie lebten, gelöst sind, geben uns in ihren Linien 
und Farben, was wir immer gewünscht und an den noch lebenden 
Früchten genossen haben. So kann im Sonett eines Dichters das 
All im Klang einer teuren Stimme, im Leuchten eines Blickes, der 
glücklich gemacht hat, im Strahlen gelöster und im Winde flattern¬ 
der blonder Haare verschwinden. Das aber ändert nichts daran, 
daß sich für den Dichter in diesem Blick, in diesem Haar das un¬ 
endliche All zusammenschließt, das ihm das Herz als eben sein 
Leben schlagen läßt, als das Leben des Kosmos. Es genügt, daß 
er im Objekt, in dem das Gefühl Gestalt annimmt, ganz sich selbst 
in der eigenen Unendlichkeit findet. 
Schön ist also die Natur nicht in ihren Teilen, die sich einer 
nach dem andern dem Naturalisten offenbaren, sondern in ihrer 
Totalität, die ihre Unendlichkeit ist; nicht also in ihrer mecha¬ 
nischen Äußerlichkeit, sondern in ihrer inneren Seele, die ihr
	        
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