Der menschliche Charakter der Kunst.
9
durch die alle Menschen im Grunde ein und dieselbe Menschlichkeit
besitzen, die für ein wechselseitiges Verstehen und ein schnelles
Sichfinden in jeder Art Arbeit und Erzeugung Voraussetzung ist.
Der Mensch, so kann man mit einem Wort sagen, ist Künstler
von Natur aus, und er braucht nicht außerhalb seiner selbst zu
suchen, was man Kunst heißt. Von dem Augenblick an, da das
Bewußtsein in ihm aufdämmert, sieht er sich sein ganzes Leben
hindurch, in jeder Lage und Lebensweise, innerhalb dieses seines
Bewußtseins vor das Faktum der Kunst gestellt.
3.
Notwendigkeit des Problems der Kunst.
Man kann nicht sagen, daß es viele der uns stets oder bis¬
weilen umgebenden Dinge gibt, die wir nicht betrachteten, sorg¬
fältiger Beobachtung unterzögen, studierten und zum Gegenstand
von Untersuchungen oder zu bestimmten Problemen erhöben.
Unter diesen Dingen könnte auch die Kunst sein.
Tatsächlich erwächst die Notwendigkeit des Problems der Kunst
nicht nur aus der Unmöglichkeit — die an dem menschlichen Cha¬
rakter liegt, wie wir ihm in der Kunst begegnen —, daß der Gegen¬
stand dieses Problems sich dem menschlichen Geiste nicht zeigt,
sondern die Notwendigkeit rührt aus einer anderen Unmöglichkeit
als Folge der ersten her und ergibt sich aus dem zweiten Merkmal,
das ich oben als für jedes philosophische oder echte Problem
eigentümlich bezeichnet habe. Diese Unmöglichkeit besteht darin,
daß etwas im Bewußtsein ist, was nicht Objekt des Bewußtseins
ist. Es ist für das geistige im Unterschied zum natürlichen Leben
eigentümlich, daß in ihm das Sein unmittelbar mit dem gewußten
oder erkannten Sein zusammenfällt und so zum Gegenstand der
Aufmerksamkeit, der Betrachtung, des Nachdenkens gemacht wird.
Nichts im geistigen Leben ist unbeobachtet, nichts findet sich da
oder dort untergebracht, um zu seiner Verwirklichung zu gelangen,
um wie ein Samenkorn zu reifen, um wie ein lebendiger Organis¬
mus zu wachsen, ohne daß eben dasselbe Prinzip, das es dort sein
oder sich in seiner Verwirklichung bewegen und reifen und wachsen
läßt, es in das Bewußtsein und als Gegenstand der Prüfung in sich
aufnehme. Mag diese Prüfung noch so kümmerlich und rudimentär
und anfängerhaft sein — unmöglich ist es, daß sie fehlt; denn ihr
Fehlen würde das Fehlen des Gegenstandes der Prüfung selbst
bedeuten.
2